Vorlesung: Einführung In Die Narratologie INHALT

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Wolf SchmidVorlesung: Einführung in die NarratologieINHALTI.Merkmale des künstlerischen Erzählens:Narrativität, Fiktionalität, ÄsthetizitätII. Die Kommunikationsebenen im ErzählwerkIII. Die Erzählkommunikation: fiktiver Erzähler und fiktiver AdressatIV. Die ErzählperspektiveV. Techniken der BewußtseinsdarstellungVI. Die narrative Konstitution: Geschehen,Geschichte, Erzählung, Präsentation derErzählungVII. Thematische und formale Äquivalenz inder ProsaLiteratur zur Einführung und zur Begleitungder Vorlesung:Matias Martinez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999etc.Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006.Silke Lahn und Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart2008.Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 2.Aufl. (de Gruyter Studienbuch), Berlin/NewYork 2008.Kap. I. Merkmale des künstlerischenErzählens:Narrativität, Fiktionalität, Ästhetizität1. NarrativitätKäte Friedemann: Die Rolle des Erzählers inder Epik. Berlin 1910. Reprint: Darmstadt1965:„Wirklich“ im dramatischen Sinne ist ein Vorgang, der eben jetzt geschieht, von dem wirZeuge sind und dessen Entwicklung in die Zukunft wir mitmachen. „Wirklich“ im epischenSinne aber ist zunächst überhaupt nicht der erzählte Vorgang, sondern das Erzählen selbst.[ ][Der Erzähler] symbolisiert die uns seitKant geläufige erkenntnistheoretische Auffassung, daß wir die Welt nicht ergreifen, wie siean sich ist, sondern wie sie durch das Mediumeines betrachtenden Geistes hindurchgegangen.Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens (Göttingen 1979): „Mittelbarkeit“ als bestimmendesMerkmal erzählender Texte.Stanzel 1 neueste russischen Einführung in dieLiteraturwissenschaft: Merkmal des Erzählens oposredovannost’ („Mittelbarkeit“)2., strukturalistische Konzeption von Narrativität: Darstellung von Zustandsveränderungen(representation of changes of state)innere und äußere ZuständeAgenten 1 HandlungPatienten 1 VorkommnisNarrative Texte in dem oben beschriebenenweiteren Sinne erzählen eine Geschichte (story,histoire, !"# %&#' ()* %&", *).„Geschichte“ Inhalt einer Erzählung im Gegensatz zu dem sie darstellenden DiskursMinimalbedingung der Narrativität: mindestenseine Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt.Darstellung: explizit oder implizit (durch Darstellung von zwei miteinander kontrastierendenZuständen)E. M. Forster (Aspects of the Novel, London1927) Minimalgeschichte: „The king died andthen the queen died“.Dagegen Gérard Genette (Nouveau discours durécit, Paris 1983): „Mon récit minimal est sansdoute encore plus pauvre, mais pauvreté n’estpas vice, que l’histoire selon Forster. Tout juste‚The king died‘“.Die Zustandsveränderung, die für Narrativitätkonstitutiv ist, hat drei Bedingungen:1. Eine temporale Struktur mit mindestenszwei Zuständen, einem Ausgangs- und einem Endzustand (the king alive – dead).

W. Schmid: Narratologie S. 22.3.Eine Äquivalenz von Ausgangs- und Endzustand, d. h. Similarität und Kontrast derZustände, genauer: Identität und Differenzihrer Eigenschaften (alive vs. dead). VolleIdentität der Eigenschaften ergibt keineZustandsveränderung. Aber auch die absolute Differenz konstituiert sie nicht, dennAnfangs- und Endzustand müssen vergleichbar sein, etwas Gemeinsames haben.Die beiden Zustände und die sich zwischenihnen ereignende Veränderung müssensich auf ein und dasselbe Subjekt des Handelns oder Erleidens (hier: der arme König) oder auf ein und dasselbe Element des„setting“ beziehen.dynamische vs. statische Elemente als Teile einer Geschichtenarrativer vs. deskriptiver Textmodusdeskriptiven Texten, eine temporale Struktur,erzählen eine Geschichte, sind v.a. im dynamischen Textmodus gehalten.Die klassische Definition von Narrativität erfasst nur solche Werke, die eine vermittelndeErzählinstanz enthalten, und schließt alle lyrischen und dramatischen Texte aus.Die strukturalistische Definition weist dem Bereich des Narrativen Werke jeglichen Mediumszu, nicht nur verbale, die auf irgendeine Weiseeine Geschichte erzählen, und schließt alle reindeskriptiven Werke aus.Starke Tendenz zu hoher Deskriptivität hat diesogenannte „Skizze“ (oc-erk).Beispiel für reine Beschreibung und Klassifikation ist Dmitrij Grigorovi3s Skizze Petersburger Leierkastenmänner (1845)2. Narration vs. DeskriptionTexte, die im strukturalistischen Sinne narrativgenannt werden, präsentieren, im Gegensatz zuGegenstand der Narratologie (punktiert)undMenge der Texte, auf die sich die vorgetragene Theorie konzentriert (Doppellinie)TexteNarrative Texte(im weiteren Sinne) stellen eine Geschichte darErzählendeTexteMimetischeTexte( narrative Texteim engeren Sinne)Die Geschichtewird von einemErzähler erzählt.stellen eine Geschichte unmittelbar dar(Drama, Film,Ballett, Pantomime, narrativesBild usw.).DeskriptiveTexte stellen einenZustand darÜbrigeTexte

W. Schmid: Narratologie S. 33. Ereignis und EreignishaftigkeitZustandsveränderung allein reicht nicht.Deshalb Begriff des Ereignisses (englisch:event, russisch: sobytie).Wolf Schmid: Narrativity and Eventfulness. In:T. Kindt, H. H. Müller (eds.), What is Narratology. Questions and Answers Regardingthe Status of a Theory ( Narratologia 1),Berlin/New York, 17–33.Peter Hühn: Event and Eventfulness. In: In:P. Hühn, J. Pier, W. Schmid, J. Schönert(eds.), Handbook of Narratology, Berlin/New York, 80–97.Ereignis ein besonderer, nicht alltäglicherVorfall.Goethe: Novelle stellt dar: „ereignete unerhörteBegebenheit“Jurij Lotman: Struktura chudo!estvennogo teksta, Moskva.Dt.: Die Struktur literarischer Texte, München:1. „Versetzung einer Person über die Grenzeeines semantischen Feldes“,2. „bedeutsame Abweichung von der Norm“3. „Überschreiten einer Verbotsgrenze“. (Diese Grenze kann eine topographische sein,aber auch eine pragmatische, ethische, psychologische oder kognitive.)Ereignis Abweichung von dem in einer gegebenen narrativen Welt Gesetzmäßigen, Normativen, dessen Vollzug die Ordnung dieser Weltaufrechterhält.Den „Sujettexten“ ( ereignishaften Texten), indenen sich eine Grenzüberschreitung ereignet,stellt Lotman die „sujetlosen“ oder „mythologischen“ Texte gegenüber, die nicht von Neuigkeiten einer sich wandelnden Welt erzählen,sondern die zyklischen Iterationen und die Isomorphien eines geschlossenen Kosmos darstellen, dessen Ordnungen grundsätzlich affirmiertwerden.Das Ereignis Zustandsveränderung, die besondere Bedingungen erfüllt.1. Grundbedingung Faktizität oder Realitätder Veränderung. Gewünschte, imaginierteoder geträumte Veränderungen bilden kein Ereignis. Allenfalls der reale Akt des Wünschens,der Imagination oder des Träumens selbst kannein Ereignis sein.2. Grundbedingung Resultativität.Veränderungen, die ein Ereignis bilden, sind1) nicht inchoativ, d. h. werden nicht nur begonnen,2) nicht konativ, werden nicht nur versucht,3) auch nicht durativ, befinden sich nicht nurim Zustand des Vollzugs,4) sondern sind resultativ, d. h. gelangen in derjeweiligen narrativen Welt des Textes zu einemAbschluss.Realität und Resultativität notwendige, abernicht hinreichende Bedingungen des Ereignisses Denn auch Veränderungen, die in einernarrativen Welt als ganz trivial und selbstverständlich, also eben nicht als Ereignisse empfunden werden, können diese beiden Bedingungen erfüllen.Bisherige Hauptkategorien:1. Zustandsveränderung,2. Ereignis, d. h. einer Zustandsveränderung,die Realität und Resultativität voraussetzt undweitere Bedingungen erfüllen muss, und3. Ereignishaftigkeit, die eine skalierbare, gradationsfähige Eigenschaft von Ereignissen ist.Dazu 4. Begriff: tellability Erzählwürdigkeit.In Erzählungen mit hoher Ereignishaftigkeitwird diese in der Regel mit der Erzählwürdigkeit zusammenfallen. In Erzählungen mit niedriger Ereignishaftigkeit kann die Erzählwürdigkeit auf dem Fehlen eines Ereignisses beruhen,das der Leser erwartet haben wird.Beispiel: Jak si nakou"il pan Vorel p#novku ausJan Nerudas Povídky malostranské.Wolf Schmid: Jak si nakou!il pan Vorel p"novku. Událostnost v Nerudov9ch Povídkáchmalostransk ch. %eská literatura 42 (1994),570–583.

W. Schmid: Narratologie S. 4Fünf Merkmale, die über den Grad der Ereignishaftigkeit entscheiden (befinden sich in einerhierarchischen Ordnung, d. h. sie sind unterschiedlich wichtig, und sie sind gradationsfähig, d. h. sie können in unterschiedlichem Maße realisiert sein und deshalb ein Ereignis mehroder weniger ereignishaft machen).Damit eine Zustandsveränderung ein Ereignisgenannt werden kann, müssen die beiden in derHierarchie höchsten Merkmale zumindest ineinem bestimmten Grad realisiert sein.1. Relevanz der Veränderung. Die Ereignishaftigkeit steigt in dem Maße, wie die Zustandsveränderung in der jeweiligen narrativenWelt als wesentlich empfunden wird.Relativität des Relevanzbegriffs (Beispiel: echovs Erzählung Ein Ereignis [Sobytie].2. Imprädiktabilität. Die Ereignishaftigkeitsteigt mit dem Maß der Abweichung von dernarrativen „Doxa“, dem in der jeweiligen narrativen Welt allgemein Erwarteten. Ein Ereignis beruht nicht notwendig auf der Verletzungeiner Norm, auf der Überschreitung einerGrenze, wie Lotman postulierte, sondern kannauch im Bruch einer Erwartung bestehen. Eineereignishafte Veränderung ist im wörtlichenSinne paradoxal, d. h. gegen die Erwartung.(Aristoteles bestimmt das Paradoxon unter anderem als das, was der allgemeinen Erwartungwiderspricht [De arte rhetorica, 1412a 27].Dabei bezieht sich die Doxa auf die narrativeWelt (storyworld) und ihre Protagonisten, nichtauf die Handlungserwartung, den script des anbestimmten Mustern orientierten Lesers. Beispiel für schwache Imprädiktabilität: echovsErzählung Die Braut (Nevesta).Beispiel für Annullierung der Imprädiktabilität: echovs Der Literaturlehrer (U&itel’ slovesnosti).3. Konsekutivität: Die Ereignishaftigkeit einerZustandsveränderung steigt in dem Maße, wiedie Veränderung im Rahmen der erzähltenWelt Folgen für das Denken und Handeln desbetroffenen Subjekts hat. In besonderem Maßeereignishaft sind Zustandsveränderungen, dienicht nur die persönliche Befindlichkeit desSubjekts, sondern die Doxa und die Normender jeweiligen erzählten Welt verändern.Beispiel für Mangel an Konsekutivität echovsLiteraturlehrer.Die mangelnde Konsekutivität wird bei echovhäufig dadurch verschleiert, dass das Erzählenabbricht, bevor der Held seine Ziele erreichthat. Die nicht wenigen Interpreten, die aus demPotentialis des offenen Endes einen Realis machen, geben der Zustandsveränderung eine Resultativität und Konsekutivität, die die Geschichte selbst nicht gestaltet.4. Irreversibilität. Die Ereignishaftigkeit nimmtzu mit der Irreversibilität des aus der Veränderung resultierenden neuen Zustands, d. h. mitder Unwahrscheinlichkeit, dass der erreichteZustand rückgängig gemacht wird.Beispielfür zweifelhafte Irreversibilität: e–chovs Braut. „Sie ging zu sich nach oben, umsich reisefertig zu machen, und am nächstenMorgen verabschiedete sie sich von den Ihren,und voller Lebensfreude verließ sie die Stadt –wie sie annahm – für immer“.5. Non-Iterativität. Veränderungen, die sichwiederholen, konstituieren, selbst wenn sierelevant und imprädiktabel sind, bestenfalls nurgeringe Ereignishaftigkeit. Beispiele: echovsSeelchen (Du'e&ka) Die BrautDie Darstellung der Iteration nähert die Narration der Deskription. Deskriptive Texte habennicht zufällig eine Affinität zu iterativen Vorgängen und Handlungen.Damit eine Zustandsveränderung ein Ereignisgenannt werden kann, müssen die beiden in derHierarchie höchsten Merkmale (Relevanz, Imprädiktabilität) zumindest in einem bestimmtenGrad realisiert sein.Bei wieviel Ereignishaftigkeit wird eine Zustandsveränderung zu einem Ereignis oder –umgekehrt – wie wenig Ereignishaftigkeit toleriert ein Ereignis? Frage nicht allgemein zubeantworten, sondern ist erstens durch das Ereignismodell einer Epoche, einer literarischenStrömung und einer Gattung beeinflusst, zweitens durch das jeweilige Werk mehr oder weniger deutlich vorgegeben und unterliegt drittensdem Urteil des Rezipienten.

W. Schmid: Narratologie S. 54. Ereignishaftigkeit, Interpretation undKontextEinwand: Merkmale stark interpretationsabhängig.Stark interpretationsabhängig ist oft schon dieFeststellung einer Veränderung der Situation(Beisp.: echovs Dame mit dem Hündchen[Dama s soba&koj])Interpretationsabhängig sind insbesondere Relevanz und Imprädiktabilität.Die Interpretationsabhängigkeit hat zwei Facetten: den Instanzenbezug und die Kontextsensitivität.Was heißt hier ‚Kontext‘?1. Das System der sozialen Normen und Werteder Entstehungszeit eines Werks oder der inihm dargestellten Handlungszeit.2. Die individuellen Werte, Normen und Ideologien, die den erzählten, erzählenden und impliziten Sender- und Empfängerinstanzen zugeschrieben werden.3. Das Ereigniskonzept in den Gattungen undliterarischen Richtungen einer Epoche.4. Der intertextuelle Kontext (Beispiel Aleksandr Pu8kins Novelle Der Stationsaufseher[Stancionnyj smotritel’])Welchen Erkenntniswert hat der Katalog derKriterien für die Ereignishaftigkeit?1. Er soll die Heuresis fördern, insofern er zentrale Phänomene des Narrativen zu erkennenund zu unterscheiden hilft. Und damit unterstützt er die Artikulation von Werkinterpretationen.2. Ereignishaftigkeit ist ein kulturell spezifisches und historisch veränderliches Phänomennarrativer Repräsentationen. Von besondererBedeutung ist der Katalog deshalb für kulturtypologische und literatur- wie mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen.Beispiele aus der russischen Literatur:1. altrussische Literatur (russische Literatur biszum 17. Jahrhundert): Ereignishaftigkeit keinpositiver Wert.2. Ereignishaftigkeit im modernen Sinne erst ineinigen „weltlichen Erzählungen“ (svetskiepovesti) des 17. Jahrhunderts auf. Sie sind vonder westeuropäischen Novelle beinflußt, dieüber das katholische Polen in das orthodoxeMoskovien gelangt ist.Frol Skobeev3. Im 18. Jahrhundert verdrängte die klassizistische Dichtungskonzeption ereignishaftes Erzählen. Die klassizistische Episteme ist

(eds.), Handbook of Narratology, Berlin/ New York, 80–97. Ereignis ein besonderer, nicht alltäglicher Vorfall. Goethe: Novelle stellt dar: „ereignete unerhörte Begebenheit“ Jurij Lotman: Struktura chudo!estvennogo tek-sta, Moskva. Dt.: Die Struktur literarischer Texte, München: 1. „Versetzung einer Person über die Grenze eines semantischen Feldes“, 2. „bedeutsame Abweichung .