»Was Ist Die Liebe? Himmelwärts Zu Fliegen, »Wär’ Auch Die .

Transcription

weltzivilgesellschaft5Marlies GlasiusweltzivilgesellschaftWeltzivilgesellschaft und die Aussichten füreine globale Öffentlichkeit21Dario AzzelliniKonstituierende Macht statt Zivilgesellschaft27Ali PayaDie Gestalt der kommenden globalenZivilgesellschaftVorschläge für eine mögliche islamischePerspektive45oliver marchartDie List des KonfliktsProtest in der Weltzivilgesellschaft55Radha D’Souza94Rezensionen & Tipps128IMPRESSUM129polylog bestellenforumEin Blick in die Kristallkugel:»Zivilgesellschaft« und »Humanität« im21. Jahrhundert63Ashraf SheikhalaslamzadehPhilosophie der Liebe bei Jalal ad-Din Rumi77Detlev QuinternÜber den Humanismus bei Ihwan as-Safa

Ashraf SheikhalaslamzadehPhilosophie der Liebe bei Jalal ad-Din Rumi»Was ist die Liebe? Himmelwärts zu fliegen,In jedem Hauch die Schleier zu besiegen «(Diwan 1919)11Dass Rumi heute sowohl im Osten wie auch imWesten unterschiedliche Schichten ansprichtund Orientierung gibt, bezeugt die Aktualitätder Mystik als einer Alternative zur Religion.21 Jalal ad-Din Rumi: Diwan-e Shams, Amir Kabir, Teheran 1341. – Verweise auf Rumis Werke werden imFolgenden mit »D« und »M« abgekürzt; diese bedeuten: D: Diwan-e kabir, zitiert nach: Jalal ad-Din Rumi:Kulliyat-i Schams ya Diwan-i kabir, ed. B. Fruzanfar, Teheran 1957 [zitiert nach Gedichtnummern]; M:Mathnawi-yi ma’nawi, zitiert nach: Jalal ad-Din Rumi:Mathnawi-yi ma’nawi, ed. R.A.Nicholson, ed. Nasrul-Llah Pur Jawadi, Teheran: Amir Kabir Verlag 1984[zitiert nach Buch und Verszahl].2 Ernst Tugendhat vertritt die Meinung, dassMys t ik besser als die Religion geeignet sei, um mögliche Antworten auf das anthropologisch angelegteBedürfnis des Menschen nach Einheitlichkeit undSammlung zu geben; denn sie ist »eine Möglichkeit [ ], die allen Menschen zugänglich ist«. ErnstTugendhat: Egozentrizität und Mystik, München.C.H.Beck 2003, S. 115.»Wär’ auch die ganze Welt ein Dornenfeld,Das Herz des Liebenden ist stets ein Rosenfeld«(Diwan 662)Als zeitgebundenes Phänomen könnte RumisMystik heute auch für ein interkulturell orientiertes Philosophieren von besonderem Interesse sein.Wenn man nach Kriterien und Maßstäbenfür Interkulturalität fragt, sollten vielleicht außer »Vernunft«, »Logik«, »Begriff« usw. nochandere Elemente – wie etwa Liebe, Mitgefühl,Spiritualität – als Bedingungen zum Gelingeneines Polylogs in Betracht gezogen werden.Die große Rezeptionswelle Rumis im Wes ten, besonders in den USA, deutet auf mancheWendepunkte in den interkulturellen und interreligiösen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hin.3 Die Frage, ob man einen Mys 3 Annemarie Schimmel erzählt über ihre Erfahrung mit Studenten in den USA, die den Sufismus alsihre Konvention ansehen und Rumi-Lesen und Tanzen zu ihren Ritualen machen, ohne zu wissen, werRumi wirklich ist, in welcher Sprache er geschriebenAshraf Sheikhalaslamzadehist Philosophin und Lehr beauftragte am Institut fürPhilosophie der UniversitätWien.polylog 18Seite 63

forumAshraf Sheikhalaslamzadeh:Die »Liebe« als Weg zur Erfahrung der Einheit steht hier den»Formen« gegenüber, die alskalt und tot angesehen werden.Die Begriffe »Geist« und »Liebe«sind hier also fast synonym.polylog 18Seite 64tiker wie Rumi von seiner geistigen Heimat,dem Islam, getrennt rezipieren kann, standim Mittelpunkt der zahlreichen Vorträge undDiskussionen, die anlässlich des Rumi-Jahresveranstaltet worden sind.4Solche Fragen führen oft zur Vermutung,dass die gemeinsame Wurzel aller Religio nen und Kulturen in der Mystik liegen würde. Mystik wäre dieser Annahme nach vorder Religion und Kultur etwas wesenhaftMenschliches – so alt und so universal wie derMensch selbst ist.Liebe als das wesentliche Merkmal allermystischen Strömungen käme dann als einKriterium für das Gelingen der Interkulturalität in Frage.5 Ausgehend von der Annahme,hat und welcher Tradition er angehört. Vgl. dazu Annemarie Schimmel: Sufismus, München. C. H. Beck22003, S. 6.4 Seyyed Hossein Nasr betonte in seinen Vorträgenin Istanbul und Konya am 8. und 12. Mai 2007 die islamische Herkunft Rumis. Auch andere Rumi-Kennerwie Abdolghafur Farhady, der auf Einladung des Afghanischen Kulturvereins am 25.8.2007 in Wien einenVortrag hielt, kritisieren, dass die selektive und unwissenschaftliche Rezeption Rumis, in der er von seiner religiösen und kulturellen Identität abgeschnittenund zu einer Gestalt der Unterhaltung und des Tanzesgemacht wird, seine Bedeutung im Bereich der Wissenschaft und der Mystik nicht gerecht werden.5 Gleich zu Beginn muss festgehalten werden, dasshier nicht von der Liebe im psychologischen, emotio nalen oder karitativen Sinne die Rede ist, sondernvon der Liebe im Sinne der »gelebten Wahrheit« und»göttlichen Anziehungskraft«. Die »Liebe« als Wegzur Erfahrung der Einheit steht hier den »Formen«gegenüber, die als kalt und tot angesehen werden.Die Begriffe »Geist« und »Liebe« sind hier also fastsynonym.dass die Liebe eine der wesentlichen Voraussetzungen oder Vorbedingungen der Interkulturalität ist, nimmt dieses Phänomen auch inden folgenden Überlegungen über das Lebenund die Lehre des persisch-islamischen Mys tikers Rumi eine zentrale Stellung ein undmacht den Schwerpunkt des Beitrags aus.Rumi – Lebensdaten undgeistiger HintergrundMohammad Jalal ad-Din Rumi wurde vor 800Jahren, genauer am 30. September 1207, imdamaligen Persien (heute Afghanistan) geboren und starb am 17. Dezember 1273 in Konya(heute Türkei). Er war der Sohn eines bedeutenden mystischen Theologen, der sich mitseiner Familie nach einer langen Periode derWanderung in Anatolien in Rum niederließ.(Von diesem Ort leitet sich der Beiname Rumiab.) Rumis Anhänger nennen ihn allerdings»Maulana«, das heißt »Unser Meister«.Rumi wurde durch die Liebe zum Wander derwisch Shams ad-Din von Tabriz (Täbris imIran) zum mystischen Dichter. Er zeigt seine Liebe, Sehnsucht und mystische Glut inmehr als 35000 Versen lyrischer Dichtungim »Diwan-e Shams« (das Werk ist auch Shamsgewidmet). Diese Gedichte sind in ihrer Leidenschaftlichkeit und in ihrer vielfältigenBildersprache in der persischen Dichtungunübertroffen. Nach dem Tode von Shamswandte Rumi sich seinem LieblingsschülerHusam ad-Din Chelabi zu, auf dessen Bittendas Hauptwerk Rumis »Math nawi« entstand.Maulana bezeichnet das »Math nawi« als einen

forumPhilosophie der Liebe bei Jalal ad-Din Rumi»Laden der Einheit«: denn darin wird dieEinheitslehre des islamischen Bekenntnisses(arabisch: tauhid) auf der Basis der universellen Liebe und der daraus resultierenden Erkenntnis neu interpretiert, die Unterschiededer Religionen relativiert und in die göttlicheEinheit integriert.Über kaum ein anderes Werk der mys tischen Literatur gibt es so viele Kommentarewie über dieses Lehrgedicht, das in mehr als25000 Versen eine wahre Enzyklopädie derMystik darstellt. Es ist jedoch keine systematische Zusammenfassung mystischer Theorien,sondern der spontane Ausdruck mystischerErfahrungen in immer wechselnden Bildern,Anekdoten, Geschichten, die oftmals unauflöslich miteinander verwoben sind. Rumi hinterließ auch das Prosawerk »Fihi ma fihi«, dasAufzeichnungen seiner Gespräche und Briefeenthält.Als er am 17. Dezember 1273 in Konyastarb, wurde Husam ad-Din sein Nachfolger.Nach dessen Tod übernahm der älteste SohnRumis, Sultan Walad, der auch die poetischeBiographie seines Vaters verfasste, die Leitungder Derwische und organisierte den MevlewiOrden, der im Westen als »Tanzende Derwische« bekannt ist. Denn ein großer Teil vonMaulanas Dichtung ist im wirbelnden Tanzentstanden und voller Musik 6.6 Über die Erfahrung der Musik bei Rumi sieheden Beitrag der Verf.: Sama’ oder Erfahrung der Musikim Sufismus, in: Reinhold Esterbauer (Hg.): Orte desSchönen. Phänomenologische Annäherungen. Festschrift fürGünther Pöltner, Königshausen & Neumann, Würzburg2003, S. 287–313.Um dieses gewaltige Gesamtwerk, das sichdem Leser bei jeder Lektüre neu erschließt,recht zu verstehen, muss man Rumi von seiner Umgebung und seinem historischen Kontext her sehen und sein Werk in der Originalsprache, im Persischen, lesen.7Es gibt kaum jemanden in der gesam tenGeistesgeschichte der Menschheit, der inBezug auf die Tiefe und die Weite der mys tischen Erfahrungen mit Rumi zu vergleichenwäre. Viele Arbeiten und Werke wurden ihmgewidmet, sein Leben wurde erforscht, seinRuhm in die Welt getragen. Die Eigentümlichkeit seiner Person liegt darin, dass bei ihmVernunft und Liebe mit einem tiefen religiö sen Bewusstsein wesentlich verschmolzen undmystische Ekstase mit Askese innerlich verbunden werden. Daher ist eine Zusammen arbeit der Philosophie mit der Mystik gefordert, um in seine Gedankenwelt eindringenzu können.Rumi ist zwar primär Mystiker, dennochfindet er mit seiner sophistischen Fähigkeiteine Methode, die Wirklichkeit in begrifflicher Form zu entschleiern. So ist Rumi in7 Selbst eine so bedeutende Rumi-Kennerin unserer Zeit wie Annemarie Schimmel, die viele Stellenvon Mathnawi sehr treffend und schön ins Deutscheübersetzt hat, gibt bedauernd zu: »Eine rein wissenschaftliche, mit ungezählten Fußnoten verseheneÜbersetzung wäre zwar in einem Lebenswerk möglich, doch die poetische Reiz des Werkes ginge dannverloren, und das Gleichgewicht, das ein tief in der islamischen Kultur und persischen Dichtersprache Vertrauter immer wieder bei der Lektüre genießt, wärein einer Übersetzung nicht einzufangen.« AnnemarieSchimmel: Das Mathnawi, Basel: Sphinx 1994, S. 20.Die Eigentümlichkeit seinerPerson liegt darin, dass bei ihmVernunft und Liebe mit einemtiefen religiö sen Bewusstseinwesentlich verschmolzen undmystische Ekstase mit Askeseinnerlich verbunden werden.polylog 18Seite 65

forumAshraf Sheikhalaslamzadeh:Aufgewachsen mit dem Erbeder Prophetie von Abrahambis Muhammad, ist Rumi einSammelbecken des spirituellenReichtums und der rationalenVielfalt seiner Herkunft.Wir finden in seiner Lehredie Grundlage der Ethik derisraelitischen Propheten, dielebendige Einsicht des Islamund die allumfassende LiebeJesu in einer wunderschönenHarmonie vereint.polylog 18Seite 66Momenten der Diskussion und Argumenta tion ein Sokrates bzw. Platon der islamischenWelt, obwohl er selbst immer wieder, wieauch Platon, auf die Unzulänglichkeit der diskursiven Philosophie und Logik hinweist.Aufgewachsen mit dem Erbe der Prophetievon Abraham bis Muhammad, ist Rumi einSammelbecken des spirituellen Reichtumsund der rationalen Vielfalt seiner Herkunft.Wir finden in seiner Lehre die Grundlage derEthik der israelitischen Propheten, die lebendige Einsicht des Islam und die allumfassendeLiebe Jesu in einer wunderschönen Harmonie vereint. Im Gegensatz zur Sichtweise derTheologen und in kritischer Konfrontationmit theologischen Schulen (arabisch: kalam)widmet er sich der Hauptlehre des Islam: derEinheit der Spiritualität in den Religionen.Maulanas Geist ist allen Formen der Religiongegenüber offen. Obwohl er ein gläubiger undpraktizierender Muslim ist, besitzt er die Freiheit, in die tiefe Bedeutung der Kulturen undReligionen einzutauchen und von dort aus zusingen: »Ich bin weder Christ noch Jude nochParse, noch Muslim. Ich stamme weder ausdem Morgenland noch aus dem Abendland,weder von der Erde noch vom Meer [ ] MeinOrt ist, was ohne Ort ist, meine Spur, waskeine Spur läßt [ ] Ich habe die Zweiheit abgelegt, ich habe gesehen, daß die zwei Weltennur eine sind; ich suche das Eine, ich kennedas Eine, ich sehe das Eine und rufe Es an. Erist der Erste, Er ist der Letzte, Er ist das Außen, Er ist das Innen [ ].«8Um zu solchen Erfahrungen und Erkenntnissen zu gelangen, musste er nicht alleReligio nen und Kulturen religionswissenschaftlich studieren, sondern drang mit Liebeund Aufmerksamkeit zu ihren Wurzeln vor.Denn die wahre Erkenntnis und Erfahrung einer Religion und einer Kultur macht den Menschen einsichtig für die Philosophie andererReligionen und Kulturen.Rumi verneint nicht die unterschiedlichenAspekte der Religionen, Nationen und Kulturen, aber er betont in seinen kurzen undlangen Geschichten stets die Relativität undUnbeständigkeit der äußeren Formen, dieoft von subjektiven Vermutungen (arabischund persisch: dhann) und durch blinde Nachahmungen (arabisch und persisch: taqlid) derAnhänger für absolut und unveränderlich gehalten werden. Die Beziehung zwischen Gottund Mensch ist für ihn nicht durch ein Dogmazu bestimmen. Denn sie entsteht nur, wenneine gegenseitige dynamische Liebe zwischendem Gläubigen und Geglaubten aktiv wird:»Kein Liebender würde selbst Vereinigungsuchen, wenn sein Geliebter sie nicht suchte.«(M III Nr.4393)Seine kritischen und scharfen Äußerungengegen die dogmatische Haarspalterei derRechtsgelehrten der Schari’a (arabisch: fuqaha) und der Logik der Theologen haben Rumizum Angriffspunkt der Orthodoxie gemacht.Es ist unmöglich, Rumi in eine der herkömmlichen Kategorien zu pressen, da seine Mystikalle Erfahrungen der Liebe und Erkenntnisübersteigt.Dies brachte ihm von Seiten derZitiert nach Frithjof Schuon: Den Islam verstehen,8Wien/München: O. W. Barth 1991, S 120.

forumPhilosophie der Liebe bei Jalal ad-Din Rumi»Hüter« der Religion und Tradition oft denVorwurf der Häresie ein.Die Angriffe Rumis gegen »PhilosophenLogiker« gehen hauptsächlich auf seine Erfahrung mit dem großen islamischen TheologenFakhraddin Razi (gest. 1210) zurück. Dieser hat,ebenso wie Muhammad Ghazali (gest. 1111), diearistotelische Logik hoch geschätzt und in dieislamische Theologie integriert. Ghazali undRazi wandten sich gegen Metaphysik und Ontologie. Im Gegensatz dazu enthalten die mys tischen Ansichten Rumis über das »Sein« einemetaphysische Interpretation der Religion.Obwohl er bereits in früher Zeit ein großerTheologe und Lehrer mit zahlreichen Schülern war, öffnet sich für Maulana erst in derBegegnung mit Shams das Tor zur Mystik. InRumis Gedanken- und Erfahrungswelt findetdaher ein Paradigmenwechsel statt, nämlichvon der Logik bzw. Metaphysik hin zu einerMystik, die auf dem Prinzip der »liebendenErkenntnis« aufruht. In dieser Hinsicht istRumi mit keinem anderen Denker des islamischen Kulturkreises zu vergleichen.Sufismus, eingeweiht wurde und sich,

Rumi wirklich ist, in welcher Sprache er geschrieben »Was ist die Liebe? Himmelwärts zu fliegen, In jedem Hauch die Schleier zu besiegen « (Diwan 1919) 1 »Wär’ auch die ganze Welt ein Dornenfeld, Das Herz des Liebenden ist stets ein Rosenfeld« (Diwan 662) forum. polylog 18. Seite 64 . Ashraf Sheikhalaslamzadeh: Die »Liebe« als Weg zur Erfah-rung der Einheit steht hier den »Formen .