Verführung Nach System - Db-thueringen.de

Transcription

Ole Karnatz Verführung nach System

Primat 03

Ole KarnatzVerführung nach SystemEine wissenssoziologische Untersuchungvon Pick-Up-PraktikenPRIMAT VERLAGFrankfurt am Mainfff000aa0044000000fffffc

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme:Karnatz, Ole:Verführung nach System.Eine wissenssoziologische Untersuchung von Pick-Up-Praktiken / Ole Karnatz.Frankfurt am Main: Primat Verlag, 2019.ISBN: 978-3-96505-004-4Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor philosophiae (Dr. phil.) vorgelegtdem Rat der Fakultät der Sozial- und Verhaltenswissenschaften der n der Arbeit: 1. Prof. Dr. Tilman Reitz, Arbeitsbereich Wissenssoziologie undGesellschaftstheorie, Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2. Prof. Dr.Sylka Scholz, Arbeitsbereich Qualitative Methoden und Mikrosoziologie, Institut für Soziologie,Friedrich-Schiller-Universität Jena.Tag der mündlichen Prüfung: 14.06.2019. 2019 by Primat Verlag, Frankfurt am Main.www.primatverlag.deDas eingesetzte Papier ist alterungsbeständig und säurefrei.Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil desBuches darf ohne Genehmigung des Verlags in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung, Digitalisierung oder igendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine vonMaschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragenoder übersetzt werden.All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book maybe reproduced in any form – by photoprinting, microfilm, ditalization, or any other means – nortransmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers.Umschlagsgestaltung: Primat Verlag, Alexis Ruccius.Umschlagsabbildung: Ephraim Moses Lilien (1874–1925), Mein schönes Fräulein darf ich’s wagen?,ca. 1903 2019 Public Domain.Layout und Satz: Primat Verlag, Alexis Ruccius.Printed in Germany

InhaltTeil I1. Einleitung: Wissenskompetenzen und Geschlecht1.1 Das Szenario: Verwissenschaftlichung in der Spätmoderne111.2 Das Phänomen: Die Krise der Männer und eineAntwort auf diese171.3 Die These: PU als Wissenssystem, das in Praktikenzutage tritt251.4 Die Ziele: Dichte Beschreibung und Theorie mittlererReichweite291.5 Der Gang der Untersuchung: Drei Teile, acht Kapitel312. Das Vorgehen: Sozialtheoretische und methodologische Erläuterungen2.1 Wissens-Praxiskomplexe erforschen332.1.1 Ein praxistheoretisches Anliegen342.1.2 Die Subjektivierung des Selbst durch Praxis392.1.3 Weitere Quellen des Wissens: Diskurse und Dispositive422.1.4 Hermeneutische Überbleibsel: Die Lebenswelt462.2 Eine qualitative Sozialforschung: Forschungsstil &Forschungsprozess522.2.1 Grounded Theory als grundständiges Verständnis qualitativerSozialforschung532.2.2 Ethnografie zum Ziel einer dichten Beschreibung552.3 Erhebungs- und Auswertungsmethoden in zwei sichüberkreuzenden Phasen612.3.1 Teilnehmende Beobachtungen, Interviews und Artefaktsauswahl612.3.2 Auswertung heterogenen Datenmaterials692.4 Übersicht zum erhobenen Material und dessen Einarbeitung742.4.1 Geführte Interviews752.4.2 Analysierte PU-Ratgeberliteratur782.4.3 Protokolle der teilnehmenden Beobachtungen81

Teil II3. Die Vermessung des Feldes: Annäherung an Geschlecht, Geschichteund Biografie3.1 Männliches Wissen: Zu einer Heuristik für denFeldzugriff (Geschlechtsdimension)3.1.1 Bedeutung von Geschlecht und dessen Erforschung83843.1.2 Männlichkeit als zu entschlüsselndes Geschlechterwissen913.1.3 Geschlechterverhältnis und Weiblichkeit993.2 Erkundungen zu den diskursiven Entstehungen vonPU (Zeitdimension I)1063.2.1 Kleine Genealogie der Verführung und der Bezug von PU auf diese1063.2.2 Psychologisierung der Kultur als Bedingung für PU1163.2.3 Historische Entwicklung der PU-Szene1273.2.4 Das game als erster Konkretisierungsmoment des PU-Wissens1413.3 Die typische Karriere eines PU-Verwenders(Zeitdimension II)3.3.1 Männliche Gründe: Romantik, Schicksal, (angedeutete)feminisierte Sozialisation1491503.3.2 Weibliche Gründe: Partnerschaften verstehen, Flirten,Erfahrungen sammeln1623.3.3 Das Kennenlernen von PU1653.3.4 Ziele mit Pick-Up1743.3.5 Dauer und Entwicklung eines Lebens(abschnittes) mit PU1844. Die Facetten des Feldes: Was kann PU sein? (Intermission)4.1 Das Problem der Definitionsoffenheit bei PU1974.2 Herausgearbeitete Definitionsmöglichkeiten von PU2005. Die Details von Pick-Up: Verständnisse und Interpretationen aus demFeld5.1 Lesart I: »Ich sehe diese Szene skeptisch« oderPraktiken der Vergemeinschaftung2065.1.1 Fremdbeschreibung und Arbeitsdefinition: PU als eine Szene2075.1.2 Selbstbeschreibung und Heraushebungsaffirmation: PU als Subkultur2135.1.3 Strukturen der Vernetzung218

5.1.4 Homosozialität, Gemeinschaft und Einzelgängerei2355.1.5 Einige Funktionen der PU-Gemeinschaft2395.1.6 Kritik an der Gemeinschaft aus der Szene2505.2 Lesart II: Die Herausforderung einerInteraktionsordnung oder Praktiken des outer game2545.2.1 Interaktionsordnung und Säulen dieses PU-Wissens2555.2.2 Das Feld bei PU und die Vorbereitung, dieses zu betreten2685.2.3 »Finden, Ansprechen und Heranziehen«2785.2.4 Ein Projekt namens Verführung: Dating, Sex und Ergebnisse2985.2.5 »Binden und sich lösen«3095.2.6 Mit Fehlschlägen und Erfolgen umgehen3245.3 Lesart III: »Richtig männlich, richtig weiblich sein«oder Praktiken des (expliziten) doing gender3315.3.1 PU-(Geschlechter-)Wissen als Handbuch zur Intersubjektivität3345.3.2 »Alpha«: Die positive Folie von Männlichkeit3435.3.3 »Beta«: Die negative Folie von Männlichkeit3565.3.4 Wie kann PU-Männlichkeit positioniert sein? Ein Zwischenfazit3615.3.5 Typisierung und Bewertung des Weiblichen im PU-Wissen3655.3.6 Die Selbstpositionierung von Frauen zu PU3765.3.7 (Eingeklammerte) Kritik am PU-Geschlechterwissen3815.4 Lesart IV: »Landkarte«, »Werkzeugkasten« und »Dasgute Leben« oder Praktiken des Reflektierens3865.4.1 Der Wille zum Wollen: PU-Wissen als Selbstführungswissen3875.4.2 »Persönlichkeit«: Eine diffuse Diskursfigur3925.4.3 Die Fertigkeiten des Selbst4005.4.4 (Selbst-)Kritik an der Selbstoptimierung4045.4.5 Das gute Leben durch PU?407Teil III6. Grundzüge eines Wissenssystems6.1 Wissensbegriff und wissenschaftliche Bezüge bei PU6.1.1 Ein Oszillieren zwischen Pragmatismus und Postmodernismus4184206.1.2 Wissensdiskussionen und Techniken des halb-wissenschaftlichenArbeitens4246.1.3 Alltag vs. Wissenschaft? Oder verwissenschaftlichter Alltag?4316.1.4 Relevantes Wissen, versuchsweise nach Disziplinen gruppiert437

6.2 Expertise des eigenen Alltags: Wie PU-Wissenadaptiert wird4466.2.1 Rollen und Positionen im Umgang mit Wissen4476.2.2 Expertise und Kompetenz4516.2.3 Einige PU-Argumentationstechniken als verwissenschaftlichte Expertise 4566.3 Einschreibung in den Körper: Die Notwendigkeit dersomatischen Bindung von Wissen6.3.1 Körper und Leib im soziologischen Verständnis4594596.3.2 Die gewollte Einschreibung4616.3.3 Implizites oder explizites Wissen? Eine Frage von Bedeutsamkeiten4657. Ausgewählte Vergleiche mit anderen Wissenssystemen7.1 Fitness-Szene und »broscience«: Diskutiertes Wissen4687.2 BDSM-Szene: Stärkere Dichte4737.3 Gothics: Subkultur auf der Suche nach derWiederverzauberung der Welt4767.4 Ballett: Praxis-Erinnerungs-Übungsarbeit4798. Fazit und abschließende Diskussion: Wissensdurchdringung8.1 Rückschau: Fokussierungen dieser Untersuchung4858.2 Wissensdurchdringung in Phänomen, Zeitdiagnoseund Gesellschaftstheorie486Literatur- und Quellenverzeichnis495Ratgeberbücher, Internetquellen und weiteresethnografisches Material495Wissenschaftliche, belletristische und journalistische Literatur499Darstellungsverzeichnis (Abbildungen/Tabellen)517Ehrenwörtliche Erklärung518Transkriptionsregeln519

»Arte regendus Amor.«»Die Kunstfertigkeit regiert die Liebe.«Ovid, Ars amatoria

Teil I

1. Einleitung: Wissenskompetenzenund Geschlecht»Was ist Pick-Up?« - Das mag (auf den ersten Blick) eine behämmerteFrage sein. Auf den zweiten Blick ist die Frage aber gar nicht so doof. Esgibt in der PU-Szene so viele konkurrierende (und teils widersprüchliche) Modelle und Theorien, dass man inhaltlich gar nicht sagen kann,was Pick-Up ist (und was definitiv nicht dazugehört).Vielleicht kann man’s nur etwas abstrakter formulieren (und definieren): Pick-Up ist das gezielte Rausgehen, um Frauen kennenzulernen –und das nachträgliche, gemeinschaftliche Theoretisieren über zielführende Vorgehensweisen und Erfahrungen. Denn der Austausch (unddas heißt auch: die f{eorie) ist ein wesentliches Charaktermerkmal derCommunity. Auch das macht Pick-Up zu Pick-Up.1Bevor die Inhalte dieses, aus dem Untersuchungsmaterial dieser Arbeit stammende Zitat erläutert werden, möchte ich ganz von vorn beginnen.1.1 Das Szenario: Verwissenschaftlichung in der SpätmoderneObwohl die folgende Arbeit lediglich wie die Beschreibung eines Phänomens,hier: einer Szene, basierend auf diversem, selbst erhobenen empirischen Material aussieht, will sie mehr sein als das. Man mag von dem, was man hier liest,halten, was man will.2 Wenn im Folgenden also die Szene Pick-Up augenscheinliches Zentrum dieser Arbeit ist, sich scheinbar alles um dieses Phänomen dreht,soll hier gleich vorausgeschickt werden, dass das ursprüngliche Interesse einerweitertes, grundsätzlich wissenssoziologisches ist. Ich wollte herausfinden,wie Wissen im 21. Jahrhundert in einer kommunikativ verdichteten, beschleu1 PU–Forum: »Was ist Pick Up?« Online verfügbar unter: www.pickupforum.de/topic/145333was–ist–pickup (Zugriff: 28.06.2018). Die Hervorhebungen entstammen dem Originaltext.2 Anmerkung zur Sprache I: Ich benutze in dieser Arbeit des Öfteren »man«. Dies istmehrheitlich eine Stilfrage, orientiert sich grundlegender aber am heidegger’schen Verständnis: »In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen undurteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom›großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden empörend, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind,schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor« (Heidegger 1967 [1927], S. 126. Die Hervorhebungen entstammen dem Originaltext.). Ich will mit »man« also unhinterfragtes, alltäglich Vorkommendes hervorheben.

121. EINLEITUNG: WISSENSKOMPETENZEN UND GESCHLECHTnigten Welt verteilt, bestimmt und durchgesetzt wird; in einer Zeit also, in derdurch die Technologien wie das Internet und der Politiken des selbstverantwortlichen Subjekts, per se Sprecher*innenpositionen3 kommen und gehen.Das bedeutet u. a. zu jedem Thema, jeder Debatte, jeder Diskussion eine Meinung zu haben.Ein solches Fundament kann man Wissen nennen. Die klassische lexikalische Definition aus über zweitausendjähriger Philosophiegeschichte lautet:Wissen ist wahre, gerechtfertigte Meinung. Es ist der grundlegende Begriffvon Wissen, welcher im Laufe gerade des vergangenen Jahrhunderts mehrereUmdeutungen erfahren sollte, auch in der Moderne, die sich selbst zu befragen lernte. Der Begriff der Reflexiven Modernisierung kann als hilfreiche MetaTheorie verstanden werden um den Übergang von der sogenannten »ersten«zur »zweiten Moderne« zu beschreiben.4 Alles, was zuvor in dieser früherenModerne als sicher galt, wird nun reflexiv und infrage gestellt. Gesellschaftendieser zweiten Moderne stellen paradoxerweise systematisch Unsicherheitenher, die ihr eigenes Dasein bedrohen. Dazu zählen nicht nur noch einigermaßenklar benennbare Phänomene wie Globalisierung oder Individualisierung (welche in der vorliegenden Arbeit eine herausgehobene Stellung genießt5), sondernvor allem eine Erosion des gesellschaftlichen Wissens, welches sich nun massivvervielfältigt, ausdifferenziert, und auf einmal mit mehreren Stimmen nebender »Wahrheitsproduzentin« Wissenschaft zu tun bekommt. Die Wissenschaftunterstützte die »großen Erzählungen«, die langsam ihre Gültigkeit verlorenund nicht mehr allein die Welt deuten können, wie Lyotard es schon vor mehrals 40 Jahren beschrieb.6Mit der Diagnose der Wissensgesellschaft lassen sich diese Verunsicherungen etwas nüchterner als grundlegenden Wandel beschreiben, der mit demErfolg der Moderne zusammenhängt und nun von einem Modus der industriellen Produktion auf einen des Wissens umschaltet und dadurch so bedeutendeMedien wie das Internet hervorbringen (und dieses selbstverständlich den eige3 Anmerkung zur Sprache II: Es wurde versucht, in dieser Arbeit das generische Maskulinum zu vermeiden und stattdessen eine gendersensible Sprache zu benutzen, die durchaus bewusst mal ganz von Männern, dann wieder nur von Frauen, oder aber Männern undFrauen, nicht aber anderen Geschlechtern, oder allen Geschlechtern spricht. Dies liegt inden vielen Facetten des Gegenstands begründet und zeigt an, welche Geschlechter von denjeweiligen Inhalten vornehmlich adressiert scheinen.4 Vgl. Dörre 2002, S. 55.5 Vgl. übersichtshalber dazu vor allem Poferl 2010. Die dort diskutierten Einsichten habenin dieser Untersuchung ihren Einfluss gehabt und bestimmten Individualisierung als einender anleitenden Prozesse für speziell das hier interessierende Thema: Pick–Up als Ausschnittdessen, wie Wissensgesellschaft »von unten« gemacht wird, angeleitet durch den »Anspruchsowie Zwang zur Gestaltung eines ›eigenen Lebens‹« (ebd., S. 293, im Original sind die letzten drei Worte kursiv).6 Vgl. Lyotard 1994 [1976].

1.1 DAS SZENARIO: VERWISSENSCHAFTLICHUNG IN DER SPÄTMODERNEnen Teil zu dieser Umstellung beiträgt). Wissensarbeiter*innen stehen nun imMittelpunkt der Arbeitswelt beispielsweise, weil statt der Güterproduktion vorallem Dienstleistungen an Bedeutung gewinnen.7 Diese benötigen verschiedeneArten von entsprechendem Spezialwissen zur Ausführung, sei es bei der Arbeitan Computerplatinen oder in der Pflege von Kranken. Um Wissen also orientieren sich Wirtschaft, Arbeitsteilung und Politik und letztlich auch alle weiterenBereiche der gesellschaftlichen Organisation. Bereitstellen soll dieses die Wissenschaft, die somit alltägliches soziales Handeln anleitet.8 Mit dieser Verantwortung belegt, Wege für das große Ganze zu finden, muss diese sich gleichzeitigmit ihren Gegenteilen herumschlagen – was die These der Wissensgesellschaftwieder mit Lyotards Beobachtung in Verbindung bringt. Hier nun wird deutlich:Das Gegenteil wissenschaftlichen Wissens ist nicht länger Irrationalität.Die aus der Epoche der Aufklärung stammende Annahme, Erfahrungswissen könne und müsse durch wissenschaftliches Wissen (verstandesmäßige Erkenntnis und Reflexion) ersetzt und verbessert werden, welche die einstige Überlegenheit des wissenschaftlichen Wissens gegenüber dem Erfahrungswissen stützte, lässt sich an vielen Stellen nichtmehr plausibilisieren.9Sind wir alle, die in einer solchen Wissensgesellschaft stehen, nicht auchjene, die immer wieder auf das verschiedenste Wissen zugreifen, ohne einegut begründete Ausweisbarkeit dieses Wissens anbringen zu können? Wirddie Diagnose der Wissensgesellschaft ernstgenommen, so fällt auf, wie diesejenen neuen Modus der gesellschaftlichen Organisation oftmals gar bejaht, dochwenig Aufmerksamkeit für konkrete Beschreibungen ihrer Verästelungen hat.Dadurch entgeht ihr die Bedeutung und Konsequenz dieser Ausdehnung desWissens. Zugespitzter: Die meisten Diagnosen der Wissensgesellschaft enthalten das Gleiche und beharren auf ihrer großtheoretischen Vogelperspektive –und unterminieren so zugleich ihren eigenen Anspruch auf eine Beschreibungder vielfältigen Gestalt einer Wissensgesellschaft.Ich will hier untersuchen, wie eine solche Möglichkeit Wissen zu finden, zugenerieren, zu überprüfen und es anzuwenden, und es in Frage zu stellen in all7 Vgl. Bell 1976 sowie Steinbicker 2001.Vgl. Stehr 1994.9 Pscheida 2010, S. 226. Nüchtern konstatiert Hermann Kocyba (2004, S. 300) in diesemZusammenhang, dass nach der oben angebrachten klassischen philosophischen Definition,ein Großteil des bekannten Wissens gar kein solches mehr wäre: »Wissen, so hat es denAnschein, legitimiert sich in der Wissensgesellschaft nicht mehr über seine Wahrheit, sondern über seinen Nutzen, seinen Ressourcencharakter«.8 13

141. EINLEITUNG: WISSENSKOMPETENZEN UND GESCHLECHTihren verwinkelten Details aussieht. Es gibt ein Bewusstsein über diese Veränderungen, und so wurden sie bereits mannigfaltig diskutiert. Die Betriebs- undManagementwissenschaften beispielsweise fassen dies als eine Notwendigkeitzu einem »individuellen Wissensmanagement« zusammen: Einzelne sozialeAkteur*innen benötigen nun eigene Kompetenzen, um in diesen zahlreichenWissensangeboten den Überblick zu behalten.10Die sozialen Akteure sind unter den Bedingungen einer solchen inPartialinteressengemeinschaften zerfallenden Gesellschaft – unter denBedingungen also der Re-Kollektivierung individualisierter Individuen– mehr oder minder ständig dazu gezwungen, ihren je eigenen biographisch erwachsenen und situativ gesetzten Relevanzstrukturen angemessene ›Anleihen‹ zu machen bei heterogenen, ja bei zum Teil antagonistischen sozialen Wissensbeständen und daraus eben ihre ihnentauglichen, sozusagen individualisierten Wissensvorräte zusammenzubasteln.Was fehlt, sind vor allen Dingen entsprechende »Bastel-Anleitungen«,die sich nicht mehr so einfach auf die Bedürfnisse der individuellen Existenzen anwenden lassen und klar wäre, was zum Leben nötig sei.11 Diezeitdiagnostische Dimension des Begriffs der Wissensgesellschaft überbetontdie alles umdeutende Kraft von Wissenschafª in dieser Wissensgesellschaft.Und das wohl mit gutem Recht, kann doch die Geschichte der (reflexiven)Moderne zugleich als eine der Verwissenschaftlichung verstanden werden. Jenekann in zwei Phasen vonstattengehen, die qualitativ zu unterscheiden sind:Einer Primär- sowie einer Sekundärverwissenschaftlichung. WissenschaftlicheDeutungs- und Handlungsmuster überziehen die unwissenschaftlichen und alltäglichen. Zwar sind die Menschen des Alltags nicht in der Lage, dieses Wissen in vollem Umfang einzusetzen, dies kann lediglich diffus geschehen, undmuss manchmal auch an Expert*innen delegiert werden. Jedoch ist schon dieÜbernahme einer verwissenschaftlichten Sprache, oder die Orientierung andieser Art, Wissen zu produzieren, ein großer Erfolg für die Wissenschaft. Inder Sekundärverwissenschaftlichung, die eine reflexive Verwissenschaftlichungist, trifft Wissenschaft bereits auf eine wissenschaftlich imprägnierte Welt. DieEmanzipation von Wissenschaft erfolgt an dieser Stelle durch (weitere) Wissenschaft.12 Ich unterstelle, dass wir uns in einer solchen Phase in der gegenwärtigenGesellschaft befinden. Das ist gewiss keine sonderlich originelle Feststellung –10 Vgl. Reinmann–Rothmeier/Mandl 2000.Hitzler 2006, S. 272 (erstes Zitat) und 273 f. (zweites Zitat).12 Vgl. Mahlmann 1991, S. 18–24.11

1.1 DAS SZENARIO: VERWISSENSCHAFTLICHUNG IN DER SPÄTMODERNEdoch will ich gerade bei solchen Weitblicken auch nicht stehenbleiben, wie nunschon andeutete.Paradoxerweise muss eine Wissensgesellschaft nicht zwangsläufig eine Wissenschafªsgesellschaft sein, wie Helmut Willke festhält: »In einer auf den ersten Blick widersprüchlichen Bewegung nimmt in der Wissensgesellschaft dieBedeutung von Wissen zu, die gesellschaftliche Relevanz des Wissenschaftssystems aber ab«.13 Aufgrund ihrer zunehmenden Fragmentierung, fehlt Wissenschaft die Autorität, ihr Wissen als allgemeingültigen Maßstab durchzusetzen.Nico Stehr findet es »verwunderlich, wie es möglich ist, dass alltägliches Wissenin modernen Gesellschaften überhaupt überleben kann«.14 Auf einer theoretischen Ebene kollidiert dies mit der Frage, wie Wissen bestimmt wird. Diese istsicherlich leicht mit einem Wissensbegriff in der Tradition von Peter L. Bergerund Thomas Luckmann zu beantworten, wenn Wissen als Triebkraft des Sozialen zu verstehen ist.15 Die Wissensgesellschaft ist dann eine Diagnose dafür, dasssich Gesellschaft selbstreflexiv von Wissen in ihrem Zentrum bewusst geworden ist. Zugleich kann das Werk Berger/Luckmanns eine Empirie befruchten,die den Unterschied von Alltag und Wissenschaft zwar aufrechterhält, abergerade auf die Überprüfung des Zusammenhangs von Wissen und ihre janusköpfige Befeuerung wie Abkehr von Wissenschaft zu untersuchen. Hinsichtlichder möglichen zahlreichen Phänomene, in denen sich eine Verwissenschaftlichung zur Lebensführung von Individuen in ihren »Bastelexistenzen« äußernkann, stellt dies die Soziologie vor die große Aufgabe der Identifizierung, vorallem aber Konzeptualisierung solcher Phänomene. In dieser Arbeit geht es alsodarum, die Effekte dieser unterstellten Verwissenschaftlichung zu untersuchen,die, anders als Stehr sich wundert, nicht einfach Alltagswissen ersetzt, sonderndieses neben andere Arten von Wissen gruppiert und umformt.Das Phänomen, das ich hier untersuche, könnte nach dieser Bestimmungauch ein anderes sein: Die Stimmen zu Geflüchteten, die zur Zeit des Schreibens dieser Arbeit die öffentliche politische Diskussion in Europa dominierten,und zu der jede*r irgendetwas zu sagen weiß – obwohl es natürlich Expert*innendafür gibt, die wiederum Entscheidungsträger*innen beeinflussen. Oder aber,profaner, die Frage nach dem Musikgeschmack von Konsument*innen, dennirgendwie hat ja auch jeder hierzu eine Vorstellung (aber manche könnenNoten lesen und Instrumente spielen, was wenigstens ein Kriterium darstellt,Lai*innen von Wissenden zu trennen). Ein anderes Beispiel für die Verknüpfung von Alltagswissen und Wissenschaft, sowie des Einflusses letzterer im All13 Willke 2001, S. 3.Stehr 2003, S. 37.15 Zur Kritik und Verbindung beider Arten von Wissenssoziologie vgl. Keller 2011, S. 23f. Für eine umfassende und kritische Durchleuchtung des Begriffs Wissensgesellschaft vgl.Bittlingmayer 2005, hier insbesondere S. 20 ff. und 199 ff.14 15

161. EINLEITUNG: WISSENSKOMPETENZEN UND GESCHLECHTtag der Menschen, könnten auch die Diskurse um Fitness, Gesundheit oder dieVerknüpfung von Ethik und Medizin sein.16Bei all diesen Phänomenen kommt das Wissen von Lai*innen zum Tragen,die solche Fragen und Probleme mittels sehr heterogener Wissensbestände fürsich selbst entscheiden können. Anders als noch bei Francis Bacon, geht dieberger-luckmann’sche Wissenssoziologie davon aus, dass es zwischen Meinenund Wissen in soziologischer Hinsicht keine Unterschiede gibt, weil Wissen einsozialer Grundstoff ist, der sich verschiedentlich äußert. Wissen ist dann gewissin manchen Fällen explizit hervorgehoben und besser begründet als anderesWissen. Soziologisch interessant sind damit zwei Dinge: zum einen die Konkurrenzsituation dieses verschiedenen Wissens miteinander, zum anderen dieFrage, auf welche Weise dieses oder jenes Wissen qualifiziert handhabbar ist(was also jene Lai*innen-Expert*innen-Dichtomie infrage stellt). Unter diesemGesichtspunkt sind die oben genannten Beispiele, wie auch das hier intensiv zubehandelnde Phänomen, nicht einfach Sache der persönlichen Präferenzen undGeschmäcker allein. Sie sind komplexe Erklärungsversuche der Welt oder dochzumindest bestimmter, für die Bastelexistenz relevanter Problembereiche, diemittels ganz verschiedenen Wissens hergestellt werden sollen. Diese reichen vonWissenschaften, zu alltäglichen Weisheiten, von Esoterik, Religion und selbsterprobten Lebenslösungen hin zu tradierten Überlieferungen. Vor allem sindsie eine Mischung aus all diesen Dingen, die doch zumindest den Eindruckerweckt, irgendeine Art systematischen Zusammenhang anbringen zu können.Selbstverständlich ist diese Systematik selbst ein Produkt von Gesellschaft unddas Subjekt damit an ihre Möglichkeiten wie Zwänge gebunden.Womöglich aber ist für die Meisterung des eigenen Lebens eine nichtwissenschaftliche statt wissenschaftliche, eine von Widersprüchen gezeichnete, aberdoch funktionierende Erklärung vorzuziehen – etwas, das laut Nicholas Ganebereits Webers Beobachtung der Moderne war, indem eine reflexiv werdendeWissenschaft nicht bestimmen kann, was gut und schlecht für das eigene Lebenist.17 Womöglich geschieht dies gerade besonders in gegenwärtigen Zeiten, dievon Echokammern, Filterblasen oder fake news sprechen. Diese sind freilichkein Muss und gehen gar ein Stück weit am vorliegenden Interesse vorbei. Esgeht nämlich nicht einfach um Verblendungen, sondern: Überzeugungen. Deshalb helfen Erklärungen, die irgendwo zwischen diesen, hier noch grob skizzierten wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Erklärungen liegen; zumindest also solche, die hier wissenschafªlich inspiriert genannt werden können. All16 Waldenschmidt, Klein und Tamayo (2009) untersuchen in einer Diskursanalyse denUmgang im Alltagswissen zur Bioethik und begreifen diese als einen »paradigmatischenFall für die Wissensgesellschaft« (S. 8). Das Phänomen Fitness ziehe ich zum Ende der Arbeit(7.1) kontrastierend zu meinem eigenen Untersuchungsgegenstand heran.17 Vgl. Gane 2002, S. 58 ff.

1.2 DAS PHÄNOMEN: DIE KRISE DER MÄNNER UND EINE ANTWORT AUF DIESEdies geschieht vor dem Hintergrund eines Prozesses, den ich als Wissensdurchdringung begreife und gegen Ende der Arbeit noch einmal fasse. Bis dahin willich die Beschaffenheit einer solchen anhand des Phänomens Pick-Up zeigen.1.2 Das Phänomen: Die Krise der Männer und eine Antwortauf dieseIm Rahmen des hier beschriebenen Szenarios hat auch die Bezugnahme auf daseigene Geschlecht eine brisante Umdeutung erfahren. Hat nicht jede*r irgendeine Meinung dazu, weil nicht auch jede*r dazu eine Meinung haben muss, daniemand geschlechtslos sein kann? Ist dieses soziale Faktum nicht die unabhängigste Variable für jede*n, und somit auch legitimer Weise Anrufungszielfür die verschiedensten Überzeugungen und Wissensbestände? Die komplexeVernetzung verschiedenen Wissens, die oben skizziert wurde, macht auch vorsolchen, ehemals als völlig natürlich und essentialistisch gedachten Kategorien keinen Halt – vielleicht gerade deswegen, weil dies viele Menschen mitfesten, auf verwissenschaftlichen Überzeugungen heutzutage immer noch tunund nur schwer akzeptieren können, dass es beispielsweise etwas jenseits vonMann/männlich und Frau/weiblich geben mag.Insbesondere für Männer habe sich hier eine »neue Unübersichtlichkeit«(Habermas) ergeben, die nun ihre Männlichkeit in Gefahr sehen (die Begriffe»Männer« und »Männlichkeit« werden später in dieser Arbeit noch genauerunterschieden). Auf Simmel geht die These zurück: Das Allgemeine ist dasMännliche bzw. aus männlicher Sicht wird die Welt ins Allgemeine (auch bzw.genauer: das »Objektive«, »Menschliche«, »Vernünftige« usw.) gedeutet,während das Weibliche das Geschlechtliche ist.18 In den letzten Jahrzehnten,grob datiert mit den Erfolgen des Feminismus der ersten und zweiten Welle, hateine Debatte zugenommen, die Männer und Männlichkeit in der Krise oder garbedroht sahen und teils bis heute sehen. Zahlreiche Analysen, die sich in Artefakten in Print- wie Onlinemedien, Blogs, Diskussionsforen und – das ist vielleicht am wichtigsten – den kleinen sozialen Einheiten der eigenen Familien, Freundes und Bekanntenkreise finden, gehen von der Krise »des« Mannesaus. Männer seien unsicher, verweichlicht und wüssten nicht, was sie wollten.Die verschiedenen Optionen, Mann zu sein, gehen nicht auf. Mann zu seinist reflexionsfähig und somit begründungsbedürftig geworden, und so ist das18 Vgl. Simmel 1985, S. 200 ff. Außerdem: In Fortsetzung der Fußnote oben, in der ich von»man« sprach, benutze ich die Formulierung »man(n)« um diese simmel’sche Beobachtung in der Arbeit auszudrücken, also kenntlich zu machen, wann etwas allgemeingültig,letztlich aber vielleicht auch männlich sein könnte.17

181. EINLEITUNG: WISSENSKOMPETENZEN UND GESCHLECHTMännliche auch nicht mehr einfach das Allgemeine. Dies spielt besonders inden Sozialbeziehungen mit Liebe, Sexualität und Partnerschaft eine entscheidende Rolle und führt in wissenschaftlichen Erklärungen zu einem Blick auf dasMännliche, das pathologisiert erscheint. Manche Männerstimmen klagen nichtnur über diese Diagnosen, welche sie zudem einseitig und lächerlich machendportraitieren würden. Besonders radikale Positionen, wie einige Männerrechtsbewegungen oder Männergruppen, behaupten: Eine Gesellschaft, die Männerfeminisiert hat, beklagt sich nun darüber, dass sie genau das seien. Dabei wardoch schon immer eine klassische Männlichkeit gewünscht ? (Was diese »klassische« Männlichkeit sein soll, ist oft genug nicht klar.) Man(n) ist unzufrieden,weil es sich nicht »einfach so« ergibt mit den Lebenszielen, in diesem zwischenmenschlichen Bereich von Flirten, Liebe, Sex und Partnerschaft und mehr.Ob die Diagnose einer solchen Krise in ihren Facetten zutreffend ist, interessiert mich in dieser Arbeit nur am Rande.19 Das Phänomen, das ich in dieser Arbeit in den Mittelpunkt stelle und nun endlich etwas genauer skizzierenmöchte, geht von einer solchen Krise aus: Pick-Up, zu Deutsch »aufreißen«und im Folgenden aus nützlicher Bequemlichkeit abgekürzt als PU, ein Bündel aus verschiedenem Wissen vornehmlich über Männlichkeit, das ich ethnografisch von 2015 bis 2018 untersucht habe. Soziologie im Sinne des berühmten Thomas-Theorems – »When people define situations as real, they’re real intheir consequences«20 – versucht Definitions- und Konsequenzpraktiken herauszuarbeiten: Wie wird Welt gesehen? Hier also: Wie wird Welt mit und durchPU-Wissen gesehen?PU verstehe ich hier als einen exemplarischen Bereich verwissenschaftlichter Weltdeutung. Jemand, der PU betreibt, üblicherweise ein Mann zwischen18 und 40 Jahren, versucht eine Frau mittels bestimmter Methoden (von derAnalyse des eigenen Verhaltens, über das Deuten ihrer Blicke, bis hin zumAnsprechen mit den richtigen Worten) für sich zu gewinnen. Dafür benutzt ereinen umfangreichen Wissensschatz, dessen Klammer als PU bezeichnet werden kann, und verschiedene, vor allem zugeschnittene wissenschaftliche Konzepte inkorporiert, von evolutions

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme: Karnatz, Ole: Verführung nach System. Eine wissenssoziologische Untersuchung von Pick-Up-Praktiken / Ole Karnatz.