Requirements-Engineering Und -Management - ReadingSample

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Requirements-Engineering und -ManagementProfessionelle, iterative Anforderungsanalyse für die PraxisBearbeitet vonChristine Rupp, die SOPHISTen5., aktualisierte und erweiterte Auflage 2009. Buch. XIV, 555 S. HardcoverISBN 978 3 446 41841 7Format (B x L): 20,5 x 24,4 cmGewicht: 1373 gWeitere Fachgebiete EDV, Informatik Software Engineering Modellierung, UML,SysMLZu Inhaltsverzeichnisschnell und portofrei erhältlich beiDie Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehrals 8 Millionen Produkte.

LeseprobeChris Rupp, SOPHIST GROUPRequirements-Engineering und -ManagementProfessionelle, iterative Anforderungsanalyse für die PraxisISBN: 978-3-446-41841-7Weitere Informationen oder Bestellungen unterhttp://www.hanser.de/978-3-446-41841-7sowie im Buchhandel. Carl Hanser Verlag, München

Chris Rupp, Ellen Wolf6Das SOPHIST–REgelwerk —Psychotherapie für Anforderungen Wenn Anforderungen von Menschen formuliert werden, findenbewusst und unbewusst Transformationen statt, die zuunvollständigen, verzerrten oder sogar falschen Informationenführen. Mittels SOPHIST-REgelwerk, das auf dem Therapieansatz„Neurolinguistisches Programmieren (NLP)“ basiert, können SieLücken und Verfälschungen in Ihren Anforderungensystematisch aufdecken und gezielt beheben. Therapieren Sie Ihre Anforderungen Schritt für Schritt —diese Regeln helfen Ihnen dabei, wirklich das zu verstehen,was Ihr Gegenüber will.115

6 Das SOPHIST–REgelwerk6.1Vom Phänomen der Transformation —Sprachliche EffekteAnforderungen werden von vielen verschiedenen Stakeholdern formuliert – Menschen unterschiedlichen Wissens, sozialer Prägung und Erfahrung. Diese Vielfalt spiegelt sich in den Anforderungenwider und birgt die Gefahr von Informationsverlusten,Unvollständigkeiten oder Zweideutigkeiten. Vor diesemHintergrund stellen sich bei der Ermittlung von Anforderungen folgende zentrale Fragen: Was meint der Stakeholder wirklich? Wie erfährt man das, was der Urheber der Anforderung meinte, alser sie formulierte?Das Metamodellder Sprache.Die Antwort ist leider nicht so trivial, wie man es sich wünschenwürde. Um dieses Problem zu lösen, haben wir Methoden ausden Disziplinen Linguistik, Informatik, Psychologie und Psychotherapie im sogenannten „SOPHIST-REgelwerk“ vereinigt.Bevor wir aber in die Tiefen des SOPHIST-REgelwerks einsteigen, stellen wir Ihnen zunächstsein theoretisches Fundament vor, das Neurolinguistische Programmieren (NLP). Wir zeigenIhnen, wie Wissen von der Wahrnehmung der Realität bis hin zum sprachlichenAusdruck Schritt für Schritt transformiert wird und zu den bekannten Unzulänglichkeiten in der natürlichen Sprache führt.Als NLP-Kenneroder Theorie-Muffelkönnen Sie direkt zuAbschnitt 6.3springen.Sie kennen diese Grundlagen oder Sie finden sie zu theoretisch? Kein Problem. Steigen Sie direkt bei der praxistauglichen Beschreibung der Regeln desSOPHIST-REgelwerks (vgl. Abschnitt 6.3) ein, die wir und auch unsere Kundenin vielen Projekten bereits erfolgreich eingesetzt haben. Wir haben dabei großenWert darauf gelegt, die Anwendung der Regeln anhand vieler Beispiele zu erläutern. Fernerfinden Sie viele Tipps und Tricks aus unserer Projekterfahrung, die Ihnen den Einsatz desSOPHIST-REgelwerks in Ihrem Projektalltag erleichtern werden.6.2Das ist das Modell des Modells „Sprache“,d. h. es beschreibt das Modell der Sprache.Die Wurzeln —Das Neurolinguistische ProgrammierenDas SOPHIST-REgelwerk basiert im Wesentlichen auf dem Metamodell der Sprache desTherapieansatzes Neurolinguistisches Programmieren (NLP) [Bandler75], [Bandler94]. DieRegeln des NLP helfen Therapeuten, die bei jedem Menschen vorhandene Intuition, ob einSatz „richtig“ (linguistisch: wohlgeformt) ist oder nicht, bewusst zu machen.Bei der Systementwicklung kann der Requirements-Engineer mit ähnlichen Regeln Effekte innatürlichsprachlichen Anforderungen systematisch aufspüren und beheben. Wegweisend beider Entwicklung natürlichsprachlicher Ansätze war der Linguist Noam Chomsky [Chomsky65], der wichtige linguistische Grundkonzepte erforschte und diese in der generativenTransformationsgrammatik beschrieb (siehe Artikel „Transformations-Linguistik“ unterwww.sophist.de).116

6 Das SOPHIST–REgelwerkAufbauend auf einigen Thesen Chomskys wurde in der Psychotherapie ein Modell menschlicher Kommunikation und Ausdrucksweise erstellt und verfeinert. Maßgeblich daranbeteiligt waren der Psychologe und Linguistikprofessor John Grinder und der Informatikerund Gestalttherapeut Richard Bandler. Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts war es ihrZiel, eine für jedermann erlernbare Therapieform zu entwickeln, die darauf beruht, dass derTherapeut die persönliche Wirklichkeit (Wahrnehmung) des Patienten versteht. Dazu mussder Therapeut herausfinden, was genau der Klient mit seinen Aussagen meint.6.2.1TransformationsprozesseJeder Requirements-Engineer sieht sich mit Anforderungen konfrontiert, die ein reales odernoch zu entwickelndes System beschreiben sollen. Wenn Menschen ein System beschreiben,also natürlichsprachliche Anforderungen formulieren, wird ein Transformationsprozess, wiein Abbildung 6.1 veranschaulicht, vollzogen.Die eingeschränkte persönliche Wahrnehmungführt zur Wahrnehmungstransformation.Persönliche WahrnehmungRealitätDer sprachliche Ausdruck des persönlichenWissens führt zur , Anwendung,Unternehmensprozesso. ä.Persönliches ?Sprachlicher Ausdruckdes WissensAbbildung 6.1: Transformationen als mögliche InformationsvernichterAusgangspunkt (in der Abbildung 6.1 links) ist die zu beschreibende Realität, das eigentlichvon den Stakeholdern gewünschte System. Rechts befindet sich hingegen die Beschreibungdes Systems, also die formulierten Anforderungen, die der Systemanalytiker im Anforderungsdokument vorliegen hat. Zwischen den beiden Enden kann eine (mehr oder wenigertiefe) Lücke klaffen, die aufgrund von komplexen, meist unbewussten Transformationsprozessen entsteht.RE-Bauernregel:Wenn der Stakeholder sein Wissentransformiert, dieAnforderung er mitVerlust notiert.Um die Lücke zwischen Realität und sprachlichem Ausdruck schließen zu können, müssen Sie alsRequirements-Engineer zunächst die möglichen Transformationsarten kennen. Nur wenn Siewirklich verstehen, warum die Realität „verfälscht“ oder nicht mehr abbildungstreu in denAnforderungen formuliert ist, können Sie die Realität auch gezielt ergründen.117

6 Das SOPHIST–REgelwerkJeder Mensch kannnur einen kleinenBruchteil dergesamten Realitätaufnehmen.Transformationsprozesse resultieren aus unserer menschlichen Natur. Der Mensch wirddurch seine soziale Prägung, sein Vorwissen und seine Erfahrungen in seiner Wahrnehmungbeeinflusst. Psychologen sprechen hierbei von der so genannten „persönlichen Wirklichkeit“.Die persönliche Wirklichkeit wirkt sich auf die persönliche Wahrnehmung der Realität aus,so dass sich jeder Mensch seine eigenen Vorstellungen von der Realität macht.So wird zum Beispiel Bibliothekar A und Bibliothekar B dasselbe Leihobjekt, ein Buch,gezeigt. Bibliothekar A erfasst sofort die ansprechende Gestaltung mit Grafiken, die harmonisch mit dem Textkörper zusammenspielen und das Gesamtbild auflockern. Bibliothekar Bhingegen nimmt dasselbe Buch vollkommen anders wahr. Er bemerkt die klare Gliederungdes Werkes mit Einleitung, Hauptteil und Schluss, welche dem Leser das Verständnis erleichtern soll. Die ansprechenden Grafiken bemerkte er überhaupt nicht. Beide Bibliothekarehaben somit unterschiedliche Bilder (in der Sprache der Psychologen: Modelle) von demgleichen Buch – von der gleichen Realität.Woran liegt es aber, dass Bibliothekar A sich ausschließlich auf Grafiken und Layout konzentriert, während Bibliothekar B vor allem die thematische Gliederung wahrnimmt? DiesesPhänomen bezeichnen Psychologen als Wahrnehmungstransformation. Jeder Mensch wendet bei der Wahrnehmung der Realität unbewusst solche Transformationen (Umgestaltungsprozesse) an, die abhängig von seiner persönlichen Wirklichkeit sind.Daraus ergibt sich für die Systemanalyse eine wichtige Erkenntnis:Die Gesamtinformation über die Realität ist immer „auf mehrere Köpfe“ verteilt,da jeder Mensch nur einen Bruchteil der Realität wahrnimmt.Dies hat zur Folge, dass es zur vollständigen Abbildung der Realität nicht ausreicht, nur einenBibliothekar zu befragen.Jeder Menschsetzt ein gewissesGrundwissen beianderen voraus.Interessanterweise treten die Transformationen aber noch an einer weiteren Stelle im Abbildungsprozess von der Realität zur Anforderung auf. Und zwar dann, wenn das persönlicheWissen in Sprache ausgedrückt wird (in Abbildung 6.1 als Wissensdarstellung bezeichnet).Wird Bibliothekar B nach dem Aufbau befragt, könnte die Antwort „äußerst sinnvoll“ lauten,obwohl er eigentlich den genauen Aufbau (nämlich Einleitung-Hauptteil-Schluss) meint.Er wandelt (transformiert) somit sein vorhandenes Wissen um, während er es in Spracheausdrückt.Analog transformiert der Schreiber von Anforderungen oder ein Interviewpartner im Gespräch sein Wissen beim konkreten Formulieren der Anforderungen.FokussierungEs gibt also zweierlei en treten auf, weil jeder Mensch die Realitätanders wahrnimmt und sich ein individuelles Bild davon macht.VereinfachungDarstellungstransformationen treten auf, weil eine Wandlung erfolgt, sobald einMensch sein Wissen (dieses Bild) in Sprache ausdrückt.Transformationen sind grundsätzlich nichts Problematisches und, wie wir noch sehen werden, sogar lebenswichtig. Für die Anforderungsanalyse stellen sie jedoch ein entscheidendesProblem dar, da mit den Transformationen möglicherweise essenzielle Informationen ver-118

6 Das SOPHIST–REgelwerklorengehen. Es macht schon einen Unterschied, ob der Bibliothekar von einem Buch, dassich in Einleitung-Hauptteil-Schluss gliedert, spricht, oder ob er den Aufbau mit „äußerstsinnvoll“ beschreibt.Bei der Entwicklung eines Systems können sich solche Nuancen in enormen Kostenunterschieden ausdrücken. Um dem entgegenzuwirken, müssen die Transformationen rückgängiggemacht und die Anforderungen mit den verlorengegangenen Informationen angereichertwerden.Transformationsprozesse führen zu Informationsverlusten und Informationsverfälschungen,die aufgedeckt werden müssen.Nun stellt sich die Frage: Ist es überhaupt möglich, diese Transformationen rückgängig zumachen? Und wenn ja, wie geht der Requirements-Engineer dabei vor? Zunächst lässt sichsagen, dass nur bestimmte Transformationen rückgängig gemacht werden können.Die Wahrnehmungstransformation (Realität Persönliche Wahrnehmung) ist nicht mehraufzulösen, da das individuelle Bild eines Menschen sich nicht problemlos beeinflussen lässt.Dies ändert sich unter Umständen, wenn sich die Erfahrungen und das soziale Umfeld desMenschen ändern. Unabhängig davon erfasst jeder Mensch aber immer nur einen Teil derRealität.RE-Bauernregel:Lässt manTransformationenschleifen, muss manspäter tief in denBeutel greifen.Auch wenn Sie esmanchmal wollen .therapieren Siebitte nicht IhreStakeholder.Um Wahrnehmungstransformationen zu kompensieren, muss der Requirements-Engineerstets mehrere Stakeholder zum gleichen Sachverhalt befragen.Die aus einer Befragung von mehreren Personen resultierenden unterschiedlichen Erfahrungen und Meinungen wirken nicht nur der Wahrnehmungstransformation entgegen, sondernstellen zudem auch eine Bereicherung für jedes Projekt dar. Wenn hier Synergien entstehen,kann ein insgesamt besseres System konstruiert werden.Darstellungstransformationen (Persönliches Wissen Ausdruck in Sprache) lassen sich dagegen glücklicherweise sehr gut auflösen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Requirements-Engineer die möglichen Transformationsarten und deren Konsequenzen genaukennt.Um Darstellungstransformationen aufzulösen, kann der Requirements-Engineerdas SOPHIST-REgelwerk einsetzen.Darstellungstransformationen werden auch auf dem Gebiet der Linguistik untersucht.Linguisten nehmen an, dass der Mensch im Geist (unbewusst oder unterbewusst) von seinerWahrnehmung eine vollständige sprachliche Repräsentation, eine so genannte Tiefenstruktur, bildet. Beginnt er dann zu reden oder zu schreiben, so trifft er eine Reihe von Auswahlentscheidungen hinsichtlich der Gestalt der zu artikulierenden Informationen und bildetsomit die zugehörige Oberflächenstruktur. Er wählt aus einer Menge von Transformationeneine bestimmte oder meist mehrere aus, durch deren Anwendung auf die Tiefenstruktur dieOberflächenstruktur entsteht.Das ist die „transformierte“ Form des Originals,also das, was der Mensch aussagt, wenn er dasGedachte in Sprache ausdrückt.D. h. sprachlicheEffekte gezielterkennen undhinterfragen.Das ist das Original,also das, was demMenschen gedanklichvorschwebt, bevorer es in Spracheausdrückt.119

6 Das SOPHIST–REgelwerkEin Satz (eine Oberflächenstruktur) ist also eine andere Form des „Originals“ (der Tiefenstruktur) im Kopf des Menschen. Der Oberflächenstruktur fehlen unter Umständen aberTeile oder es werden Teile falsch dargestellt. Aus dieser Annahme leitet sich auch das (linguistische) Ziel der Analyse von Anforderungen ab:Um ein vollständiges und nicht verändertes Bild der persönlichen Wahrnehmung einesStakeholders zu erlangen, muss der Requirements-Engineer aus der Oberflächenstrukturdie zugehörige Tiefenstruktur ermitteln.Die Tatsache, dass Menschen sich bei der Bildung von Oberflächenstrukturen an Regelnhalten, führte Chomsky zu der Annahme, dass das Verhalten der Menschen bei der Bildungsprachlicher Äußerungen offenbar regelgeleitet ist. Einen möglichen (und plausiblen) Satzvon Regeln legte Chomsky in der bereits erwähnten Generativen Transformationsgrammatikerstmalig dar.Ähnlich dem Ansatz von Chomsky können wir auch in der Systemanalyse Regeln definieren,durch die ein systematisches Aufspüren der Transformationen bei Prosa-Anforderungen undAussagen des Kunden möglich ist. Der Requirements-Engineer will einen Teil der persönlichen Wirklichkeit des Verfassers verstehen, kennt aber nur die sprachlichen Oberflächenstrukturen des Verfassers. Kann er aus ihnen die verwendeten Transformationen folgern, soist es ihm durch gezieltes Hinterfragen möglich, an die Tiefenstruktur dessen zu gelangen,was der Verfasser auszudrücken 2.2Kategorien der DarstellungstransformationAufbauend auf den Erkenntnissen der Linguistik unterscheiden Bandler und Grinder imNLP drei prinzipielle „Arten der Umgestaltung“: Tilgung, Generalisierung und Verzerrung.Diese Einteilung mag vielleicht nicht disjunkt erscheinen, hat sich in der Praxis aber alsdurchaus nützlich erwiesen.Sprachlichen EffekteIn Abbildung 6.2 sind diese drei Kategorien als Symbole grafisch dargestellt. Diese Symbolelassen sich nichtimmer strikt nur einer verwenden wir in den nachfolgenden Abschnitten, um den Regeln des SOPHIST-REgelwerksKategorie zuordnen. die Art der Umgestaltung entsprechend zuzuordnen.TILGUNG ist ein Indikator fürunvollständige Informationen.VERZERRUNG ist ein Indikatorfür realitätsverfälschende Aussagen.GENERALISIERUNG ist ein Indikatorfür fehlerhafte Verallgemeinerungen.Abbildung 6.2: Klassifizierung sprachlicher Effekte120

6 Das SOPHIST–REgelwerkNachfolgend beschreiben wir die Transformationskategorien nach Bandler und Grinder. DieDefinitionen sind rein sprachwissenschaftlicher Natur, können aber durchaus auch auf diesprachlichen Effekte im Zusammenhang mit Anforderungen angewendet werden.TilgungDer Prozess der Tilgung reduziert die Flut an Informationen, mit denenwir konfrontiert werden, auf Ausmaße, mit denen wir umgehen können.Wenn wir wiederum Informationen weitergeben, dann tilgen wir dabeiunbewusst jene Teile, die wir als „selbstverständlich“ ansehen oder unbewusst beim Informationsempfänger als bekannt voraussetzen.Mit Hilfe der Tilgung ist es uns zum Beispiel möglich, das allgemeineStimmengewirr in einem Raum mit vielen Menschen so zu filtern, dass unsnur noch die Stimme unseres Gesprächspartners bewusst erreicht (selektiveWahrnehmung).Tilgung (engl. Deletion) ist ein Prozess, durch den wir unsere Aufmerksamkeitselektiv bestimmten Dimensionen unserer (im Moment möglichen) Erfahrungenzuwenden und andere ausschließen. Tilgung reduziert die Welt auf Ausmaße, mitdenen wir umgehen können. [Bandler94]Diese Reduktion kann in einem gewissen Kontext sinnvoll sein, in Anforderungen an einSoftwaresystem können durch Tilgungen jedoch wichtige Informationen verloren gehen. Somag ein Bibliothekar mitteilen: „Zum Ende eines Monats werden die Konten mit den anfallenden Gebühren belastet“. Ein anderer Bibliothekar, vertraut mit den Arbeitsprozessen derBibliothek, wird aus diesem Satz die getilgten Inhalte wahrscheinlich rekonstruieren können:„Es fallen Mahngebühren für Kunden an, die Leihfristen überschreiten.“ Der unbedarfteZuhörer, dem diese getilgten Informationen nicht bekannt sind, könnte die Aussage desBibliothekars aber vollkommen anders interpretieren.RE-Bauernregel:Wenn Informationennicht vollständigkommen ans Licht,fehlendes Wissenherauskitzeln ist desRElers Pflicht.GeneralisierungDie Generalisierung ist ein Prozess, durch den eine einmalige Erfahrung (Teile einespersönlichen Modells) auf andere, ähnliche Sachverhalte oder verwandte Zusammenhänge übertragen und somit als allgemeingültig angenommen wird.Die menschliche Fähigkeit, Erfahrungen zu generalisieren, ist ein Prozess, der überlebenswichtig sein kann. Ein Beispiel für eine solche Generalisierung ist die heißeHerdplatte, bei deren schmerzvoller Berührung ein Kind richtig generalisiert, dassalle heißen Herdplatten gefährlich sind, nicht nur die eine, an der es sich verbrannthat. Eine nicht ganz so richtige Generalisierung wäre die grundsätzliche Angst, alleHerdplatten anzufassen (also auch kalte), oder die Annahme, dass man sich nur andieser einen speziellen Herdplatte die Finger verbrennen kann. Was bleibt, ist dasWissen, dass die Berührung irgendeiner heißen Herdplatte zu unerwünschten Verbrennungen führt, und hoffentlich auch die Vorsicht gegenüber allen Herdplatten (da sie ja heiß seinkönnen).121

6 Das SOPHIST–REgelwerkRE-Bauernregel:Generalisierung (engl. Generalization) ist der Prozess, durch den Elemente oderWenn GeneralTeile eines persönlichen Modells von der ursprünglichen Erfahrung abgelöstisierungen dem Stakewerden, um dann die gesamte Kategorie, von der diese Erfahrung ein Beispielholder nicht richtigdarstellt, zu verkörpern. [Bandler94]gelingen, der REler dieInformation auf denGeneralisierung ist auch im Kontext der Systemanalyse nützlich und sinnvoll. Wichtig istPunkt muss bringen.allerdings die passende Gruppierung der Sachverhalte, auf die sich das zu beschreibendeSystemverhalten bzw. die Systemeigenschaft generalisierend beziehen soll.Durch eine zu starke Generalisierung entstehen globale Anforderungen an das System, diewahrscheinlich nur für einen Teilbereich des Systems richtig und sinnvoll sind. Sonder- undFehlerfälle gehen hierbei häufig verloren. So könnte der Bibliothekar berichten, dass dieKennungen aller Bücher, die zur Kunstabteilung gehören, mit dem Kürzel KST beginnen.In der Kunstabteilung gibt es aber auch Exfolianten, die aufgrund ihrer Übergröße nicht indie vorgesehenen Regale passen und daher an anderer Stelle untergebracht sind. Diese sindmit dem Kürzel EXF ausgezeichnet. Der Bibliothekar hat diesen Sonderfall versehentlichvergessen.VerzerrungDie Verzerrung ist der Vorgang, durch den die Realität umgestaltet oder sogar verfälschtwird. Von einer Verzerrung spricht man, wenn ein Aspekt der Realität so verändertwird, dass er beim Betrachter zu einem Zerrbild führen kann.Verzerrung findet statt, wenn eine Situation mit Ausdrücken beschrieben wird, dienicht entsprechend dieser Situation sind. Somit wird die Situation ausgeschmücktoder getrübt und die eigene Wahrnehmung oder die des Empfängers (wenn auchmeist unbewusst) beeinflusst. Das Phänomen der Verzerrung sorgt dafür, dass derMensch neue Informationen leichter in seine Vorstellungen integrieren kann. Somanches Detail wird nötigenfalls ein wenig verändert, um in das bereits erstellte Bildeiner Situation zu passen. Somit verändern wir häufig eine Information oder unsereWahrnehmung so, wie es für uns richtig erscheint.RE-Bauernregel:Wenn derStakeholder eineUmgestaltung hatvorgenommen, derREler der Realitätauf die Spur musskommen.122Jede Verzerrung kann eine Menge an Informationen vernichten und ist damit implizitauch ein Tilgungsdefekt.Verzerrung (engl. Distortion) ist der Prozess, der es uns ermöglicht, in unsererErfahrung sensorischer Einzelheiten eine Umgestaltung vorzunehmen. [Bandler94]Verzerrungen stellen für jeden Requirements-Engineer eine harte Nuss dar, da er häufignicht entscheiden kann, ob formulierte Sachverhalte korrekt sind, ob sie verzerrt wurdenoder ob er sie durch seine eigene Wahrnehmung selbst verzerrt. Ein Bibliothekar berichtetbeispielsweise, dass bei jeder Reservierung eine Sperrung erfolgen soll. Der Bibliothekarverzerrt hier einen Sachverhalt, da er den Prozess der „Sperrung“ als selbstredend und somitvereinfacht beschreibt. Unter Umständen kann dieser Prozess aber aus einer Reihe komplexerProzessschritte bestehen.

6 Das SOPHIST–REgelwerk6.3Vom Umgang mit sprachlichen EffektenJede der erwähnten Transformationskategorien Tilgung, Generalisierung und Verzerrungzeigt sich in bestimmten so genannten sprachlichen Effekten. Jeder Effekt kann zu qualitativ minderwertigen Anforderungen führen, jedoch nicht in allen Fällen auch zueinem Defekt.Inwiefern ein sprachlicher Effekt ein Problem darstellt und deshalb behobenwerden sollte, hängt von vielen Randbedingungen ab. Ein wichtiger Faktor istsicherlich das Detaillierungsniveau, auf dem Sie gerade Anforderungen schreiben.Sprachliche Effekte auf der Ebene von Zielen oder von eher generischen Anforderungen (z. B. Spezifikationslevel 0 und 1, sieheKapitel 3 „Von der Idee zur Spezifikation“) sind normal und aufdem angestrebten Detaillierungsniveau auch nicht immer zu vermeiden.Da es allerdings Leser geben wird, die Ihre Spezifikation nur auf diesen Ebenen betrachtenwerden, ist es wichtig, dass die für diese Leserschaft wichtigen Informationen nicht durchEffekte vernichtet werden.Gewisse grundlegende Regeln sollten Sie bereits auf Spezifikationslevel 0 und 1einhalten: Schreiben Sie Ihre Anforderungen stets in vollständigen Sätzen. Formulieren Sie immer im Aktiv (siehe Regel 1 in Abschnitt 6.4.1). Verwenden Sie Begriffe konsistent und vermeiden Sie Synonyme oderHomonyme. Falls es bereits ein Glossar (siehe Kapitel 8 „Dokumentation von Anforderungen“ und Kapitel 7 „Schablonen“) gibt, verwenden Sie die darin definiertenBegriffe. Formulieren Sie Prozesse durch Vollverben.Wie z. B. berechnen,drucken, exportieren,überweisen, .Schreiben Sie sehr detaillierte Anforderungen (ab Spezifikationslevel 2), die auch noch Teileines Vertrages für eine externe Beauftragung werden, so sind sprachliche Effekte bei weitemschädlicher und sollten sehr kritisch geprüft und nach Möglichkeit beseitigt werden. Auchwenn Ihre Anforderungen syntaktisch meist wohlgeformt sind, können sie sprachliche Effekte enthalten. Ihre Aufgabe ist es nun, diese Effekte zu erkennen und zu beheben, sofern diefehlenden oder verzerrten Informationen wesentlich sind.Grammatikalisch richtigWir empfehlen daher, die Regeln des SOPHIST-REgelwerks im Wesentlichen ab Spezifikationslevel 2 anzuwenden. Ab diesem Level formulieren Sie detailliertere Anforderungen, durchdie Anforderungen auf Level 0 und Level 1 verfeinert werden.123

6 Das SOPHIST–REgelwerkUnabhängig davon, auf welchem Spezifikationslevel Sie Anforderungen formulieren, sollenSie sich immer an folgende grundlegende Regel halten:Für jeden Spezifikationslevel gibt es zu der obigen Grundregel „Formulieren SieProzesse durch Vollverben“ eine Verfeinerung, die immer zu beachten ist: Verwenden Sie immer nur Vollverben, die für den jeweiligen Spezifikationslevelauch „gute“ Vollverben darstellen. Denn nicht jedes Vollverb ist ein für denSpezifikationslevel angemessenes Vollverb.Auf Spezifikationslevel 1 werden beispielsweise für das Bibliothekssystem die Use-Casesdefiniert, von denen sich einer auf die Kundenverwaltung bezieht. Als Vollverb formuliertnotieren wir den Use-Case als „Kunde verwalten“. Für Spezifikationslevel 1 ist das Vollverb„verwalten“ durchaus angemessen. Ab Spezifikationslevel 2 verwenden wir aber niemals dasVollverb „verwalten“, da es für diesen Level viel zu nichtssagend, zu „schwammig“ ist. Vielmehr verfeinern wir das Vollverb „verwalten“ durch detailliertere und für Level 2 geeigneteVollverben, wie beispielsweise „eingeben“, „speichern“, „anzeigen“, usw.Setzen Sie hier auchdie Anforderungsschablone aus Kapitel7 „Schablonen“ ein. Wenn Sie das Auftreten sprachlicher Effekte von Anfang an vermeiden wollen, dann set-zen Sie das SOPHIST-REgelwerk direkt konstruktiv während der Ermittlung und bei derFormulierung Ihrer Anforderungen ein. Wollen Sie Effekte in bereits dokumentierten Anforderungen aufspüren? Dann empfehlen wir den analytischen Einsatz des SOPHIST-REgelwerks.Kombinieren Sie das REgelwerk mit den analytischen Prüftechnikenaus Kapitel 10 „Prüftechniken für Anforderungen.“Und wenn Sie basierend auf einer Qualitätsaussage über Ihre Anforderungen eine Grundlagefür die Entscheidungsfindung schaffen wollen, messen Sie die formale Qualität Ihrer Anforderungen mit Hilfe von Qualitätsmetriken (vgl. Kapitel 11 „Qualitätsmetriken“), die imWesentlichen auf den Regeln des SOPHIST-REgelwerks aufbauen.Grundsätzlich sollte es aber nicht Ihr Ziel sein, alle Anforderungen so weit zu perfektionieren, bis sie von allen Effekten befreit sind. Konzentrieren Sie sich auf die Informationen, dieSie für den weiteren Prozess benötigen. Hinterfragen Sie vor allem an den Stellen, an denenfehlende oder falsche Informationen das höchste Risiko für Ihren Projekterfolg darstellen.Z. B. abSpezifikationslevel 2Gehen Sie risikogetrieben vor.Gehen Sie auf Nummer sicher: Setzen Sie die Regeln des SOPHIST-REgelwerksumso intensiver ein, je detaillierter Sie Anforderungen beschreiben, je kritischer Ihr System und damit Ihr Projekt ist.Eine Rangliste hierzufinden Sie inAbschnitt 6.8.124Nach unserer Erfahrung treten sprachliche Effekte in unterschiedlicher Häufigkeit auf. Daher ist es wichtig und ratsam, dass Sie sich zunächst auf die Gruppe der gefährlichenWiederholungstäter konzentrieren.

6 Das SOPHIST–REgelwerk6.4Das Vorgehen beim SOPHIST–REgelwerk —Anforderungen auf die Couch gelegtBasierend auf den Thesen des Linguisten Noam Chomsky und dem Metamodellder Sprache lässt sich auch ein Regelwerk für die Systemanalyse aufstellen:das SOPHIST-REgelwerk. Es basiert auf Regeln, nach denen der Menschunbewusst vorgeht, wenn er sich natürlichsprachlich, d. h. in Wort undSchrift, äußert.RE-Bauernregel:Hast du einen wildenAnforderungshaufen,lass ihn gleich dasREgelwerk durchlaufen.Mithilfe des SOPHIST-REgelwerks können auf definierte, systematischeArt und Weise mehrdeutige, unvollständige und widersprüchliche Aussagenin Anforderungsdokumenten gefunden werden (analytische Qualitätssicherung). Auch präventiv, also im Zuge der konstruktiven Qualitätssicherung,lässt sich die Kenntnis der Transformationsprozesse beim Ermitteln undDokumentieren von Anforderungen einsetzen (vgl. Kapitel 10 „Prüftechniken für Anforderungen“).Das SOPHIST-REgelwerk ist eine Technik, die es Ihnenermöglicht, Tilgungen, Generalisierungen und Verzerrungen inAnforderungen zu erkennen und somit fehlende und verzerrteInformationen in Anforderungsquellen aufzudecken.Durch jede einzelne Regel des SOPHIST-REgelwerks können unterschiedliche sprachlicheEffekte in einer Anforderung gezielt gefunden werden. Obwohl sich die Regeln in diesemKapitel ausschließlich auf Anforderungen beziehen, lassen sie sich natürlich auf sämtlichenatürlichsprachliche Ausdrucksformen (mündlich oder schriftlich) anwenden.Das Vorgehen beim Einsatz einer einzelnen Regel aus dem SOPHIST-REgelwerk ist denkbareinfach:Z. B. auch auf semiformale Notationen,wie beispielsweiseDiagramme, Tabellenoder Bilder, in denennatürliche Sprachevorkommt.Signalwort finden Schritt 1: Identifizieren von sprachlichen Effekten in Anforderungen anhandvon Signalwörtern. Schritt 2: Analysieren verlorener oder verfälschter Informationen durchgezielte Fragestellungen. Schritt 3: Bereinigen sprachlicher Mängel oder inhaltlicher Fehler durchUmformung der Anforderung mittels der gegebenen Antworten, so dassEffekte eliminiert werden.Fragen zumSignalwort stellenAnworten einarbeitenVom Grundsatz her ist das SOPHIST-REgelwerk eine Ansammlung von Regeln. In der Praxisfällt es uns jedoch häufig schwer, mit einem solch umfangreichen Pool an Regeln umzugehen,wenn darauf keine Ordnung definiert ist.125

6 Das SOPHIST–REgelwerkVermutlich kennen Sie das auch: Sie erfahren von einem Kollegen, dass es da eine ganz tolleAnsammlung von Regeln und Empfehlungen gibt, durch die Sie die Qualität Ihrer täglichenArbeit steigern können. Voller Euphorie stürzen Sie sich auf das Regelwerk und erkennen,dass alle Regeln einfach und verständlich sind. Mit Ihrem neu erlangten Wissen machen Siesich voller Elan an Ihre nächste Aufgabe. Und dann sitzen Sie ganz verzweifelt da und wissennicht, wie Sie diese eigentlich simplen Regeln am besten einsetzen sollen.Sie stellen sich sicherlich die folgenden Fragen: Wie soll ich denn konkret vorgehen? Mitwelcher Regel fange ich an und brauche ich wirklich alle Regeln? In welcher Reihenfolge sollich welche Regeln mit welcher Priorität anwenden?1. Prüfe dieSatzbestandteile2. Prüfe denSatz3. Prüfe dasGesamtbildAbbildung 6.3: Das Vorgehen beim Einsatz des SOPHIST-REgelwerksDen Fallstricken der

Therapieansatzes Neurolinguistisches Programmieren (NLP) [Bandler75], [Bandler94]. Die Regeln des NLP helfen Therapeuten, die bei jedem Menschen vorhandene Intuition, ob ein Satz „richtig" (linguistisch: wohlgeformt) ist oder nicht, bewusst zu machen. Bei der Systementwicklung kann der Requirements-Engineer mit ähnlichen Regeln Effekte in natürlichsprachlichen Anforderungen systematisch .