Vorwort

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VorwortNach Stationen in Arnstadt, Mühlhausen und Weimar war Johann SebastianBach (1685 – 1750) im Jahr 1717 zumHofkapellmeister des Fürsten Leopoldvon Anhalt-Cöthen ernannt worden. Zudiesem Zeitpunkt hatte das EhepaarBach vier Kinder; dem ältesten Sohn,Wilhelm Friedemann Bach (1710 – 84),wurde schon bald eine musikalischeAusbildung zuteil. In diesem Zusammenhang legte der Vater zu Beginn desJahres 1720 ein Clavier-Büchlein an,das mit „angefangen in Cöthen den22. Januarii Ao. 1720“ datiert ist. Esenthält auf den ersten Seiten vor allemkürzere Präludien, Choralbearbeitungen und Tanzsätze, gefolgt von längeren Präludien, die später in das Wohltemperierte Klavier Teil 1 eingehensollten. Im hinteren Teil finden sich– hier noch als „Praeambula“ bzw.„Fantasiae“ bezeichnet – die Inventi onen und (getrennt durch eine SuiteGeorg Phi l ipp Telemanns und eine Partita Gottfried Heinrich Stölzels) die Sin fonien; da die letzten Seiten verlorengegangen sind, fehlen der Schluss derFantasia D-dur sowie die gesamte Fantasia c‑moll.Ein genaues Kompositionsdatum derInventionen und Sinfonien ist nicht be kannt. Es lässt sich nur vermuten, dassdie Inventionen und Sinfonien vielleichtum 1722/23 Eingang in das ClavierBüchlein gefunden haben, denn in derQuelle selbst ist keine Datierung bei deneinzelnen Werken zu finden.Im Jahre 1723 schrieb Bach die Inventionen und Sinfonien (nun mit denheute gebräuchlichen Titeln) in einemeigenen Heft in reinschriftlicher Formabermals nieder. Dabei retuschierte erden Notentext leicht, veränderte vorallem aber die Reihenfolge der Stückeso, dass sie nun in der Tonart aufsteigend angeordnet sind. Der Bach-Forscher Christoph Wolff stellte die Theseauf, dass die Anfertigung dieses Autographs, dem nun ein Titelblatt mit einer Vorbemerkung beigefügt war (sieheAbbildung auf S. IX), im Zusammenhang mit Bachs Bewerbung um dasLeipziger Thomaskantorat stehenkönnte (vgl. Christoph Wolff, JohannSebastian Bach, Frankfurt am Main2000, S. 246 ff.): Nach dem Tod Johann Kuhnaus (Juni 1722) hatte GeorgPhilipp Telemann die Amtsnach folgeabgesagt (November 1722), und Christoph Graupner war von seinem Dienstherrn nicht freigegeben worden (EndeMärz 1723). Somit wurde Bach, denman Ende 1722 in den Bewerberkreisaufgenommen hatte, in die engere Wahlgezogen. Gegen Bach sprach jedoch diedoppelte Aufgabenstellung des Thomaskantors: Er musste nicht nur dieMusik für die Gottesdienste leiten (undkomponieren), sondern auch an derThomasschule unterrichten, und zwaru. a. Gesang und einzelne Instrumente.Hier aber konnte Bach, der kein Universitätsstudium absolviert hatte undin Köthen für die Hofmusik zuständigwar, wenig vorweisen. Nicht nur dieSammlung der Inventionen und Sinfonien, sondern auch die des Wohltemperierten Klaviers Teil I – dessen Reinschrift Bach ebenfalls zu diesem Zeitpunkt anfertigte – wurden jeweils miteinem Titelblatt versehen, das vor allem den Nutzen für die Ausbildung amInstrument hervorhob. Möglicherweisewollte Bach mit diesen Stücken unterBeweis stellen, dass er trotz des Fehlenseiner Universitätsausbildung gleichwohlin der Lage war, seine Schüler angemessen und erfolgreich zu unterrichten.In der „Auffrichtigen Anleitung“, dieden Inventionen und Sinfonien vorangestellt ist, sind zwei Adressatenkreisegenannt: die (bloßen) Liebhaber unddie „Lehrbegierigen“, also die Instrumentalschüler (ähnlich ist auf dem Titelblatt des Wohltemperierten Klaviersvom „Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend“ dieRede). Hervorgehoben wird dabei eindoppeltes Lernziel: einerseits die Ausbildung eines sowohl kantablen alsauch in linker und rechter Hand gleichermaßen ausgebildeten Spiels, andererseits eine Einführung in die Komposition (und vielleicht auch Improvisa tion). Mit der letztgenannten Absichthängt womöglich zusammen, dass denInventionen und Sinfonien ein gleichsam enzyklopädischer Zug eigen ist:Bach präsentiert in dieser Sammlungeine Fülle von Satzcharakteren und Af fekten, die ein reiches Spektrum vom ga lanten bis zum empfindsamen Ton entfalten; er führt überdies unterschied liche Tanzsatztypen und Satztechnikenvor (die zweistimmige Imitation undFuge sowie den Triosonatentypus). Dabei war er offensichtlich bestrebt, auchdie den verschiedenen Tonarten zu geordneten typischen Ausdrucksbereiche plastisch hervortreten zu lassen(so sind etwa beide f-moll-Stücke ganzvon expressiven Seufzerfiguren durchzogen, während die in F-dur einen spielerisch-leichten Ton anschlagen).Tatsächlich verwendete Bach dieInventionen und Sinfonien nicht nurfür die Ausbildung seines Sohnes Wilhelm Friedemann, sondern auch imUnterricht weiterer Schüler. Das gehtzum einen aus einer Äußerung ErnstLudwig Gerbers über seinen VaterHeinrich Nicolaus Gerber hervor, derrückblickend den um 1725 erhaltenenUnterricht so beschrieb: „In der erstenStunde legte er ihm seine Inventionesvor. Nachdem er diese zu Bachs Zufriedenheit durchstudirt hatte, folgte eineReihe von Suiten und dann das temperirte Klavier“ (Historisch-Biographisches Lexikon der Tonkünstler, hrsg.von Ernst Ludwig Gerber, Leipzig1790, Sp. 492). Zum anderen hat sicheine Reihe von Schülerabschriften derInventionen und Sinfonien erhalten.Die meisten dieser frühen Abschriftendürften unmittelbar auf Bachs reinschriftliches Autograph zurückgehen.Dies ist sicher bei den jeweils mit 1725datierten Abschriften von HeinrichNicolaus Gerber und Johann Peter Kellner der Fall und auch bei der Kopie vonChristian Samuel Mohrheim anzunehmen (letztere enthält nur vier Inventionen und vier Sinfonien, ca. 1733 – 36).Auch die vor 1727 geschriebene Abschrift von Johann Christoph Bach (mitJohann Sebastian Bach entfernt verwandt und seit 1698 als Kantor im thüringischen Gehren tätig) geht vermutlich auf das Autograph zurück. Nur

Vder Abschrift von Bernhard ChristianKayser, der bereits in Köthen zu BachsSchülern gehört hatte, lag eine andereVorla ge zugrunde: Sie stellt ein Zwischenstadium zwischen dem ClavierBüchlein für Wilhelm FriedemannBach und dem separaten reinschrift lichen Autograph dar. Ein Druck desWerks erschien erst 1801, also langenach Bachs Tod.Die genannten Schülerabschriftensind von Interesse, weil sie sowohl einenEinblick in die Verzierungspraxis ihrerZeit als auch in Bachs Unterricht ge wäh ren (Eingriffe in den Notentext gibt esnicht, hingegen werden viele Ornamente ergänzt). Die Überfülle an Verzierun gen könnte didaktische Gründe haben;vielleicht sollte der Schüler aus allennotierten Verzierungsmöglichkeitenfallweise wählen können. In das Autograph hatte Bach ursprünglich nur wenige Ornamente eingetragen. Im Zugeeiner Durchsicht der Handschrift (derZeitpunkt ist nicht bekannt) korrigierteer einige Fehler und retuschierte denNotentext an wenigen Stellen (grundlegend überarbeitete er dabei die Inventio Nr. 1), vor allem aber ergänzte er inden Inventionen Nr. 10, 11 sowie in derSinfonia Nr. 5 weitere Verzierungen.Die Ornamente in den Abschriften vonGerber und Kayser gehen über diesenBestand deutlich hinaus, während dieübrigen Abschriften nur sporadischVerzierungen aufweisen.Unserer Edition liegt als Hauptquelle Bachs reinschriftliches Autographin der Fassung letzter Hand zugrunde(nur Sinfonia 5 wird doppelt wiedergegeben – im frühen und im überarbeiteten Stadium). Wo sich in den Schülerabschriften deutlich über den sonstigenBestand hinausgehende Verzierungenfinden, werden einige Sinfonien doppeltabgedruckt: zum einen in der Fassungdes Bach’schen Autographs mit nurwenigen Verzierungen, zum anderenin der Fassung der Abschriften vonGerber oder Kayser mit hinzugefügtenVerzierungen (in Sinfonia Nr. 5 trugBach selbst die Verzierungen in Gerbers Exemplar ein). Im Unterschiedzum eigentlichen Notentext (Tonhöhenund Rhythmus) gehörten die Verzie-rungen als Teil der „decoratio“ in denBereich des „Geschmacks“. Sie warensomit von persönlichen Vorlieben undFähigkeiten abhängig und galten alsindividuelle Zutat, die im Allgemeinennicht notiert wurde, sondern spontanhinzugefügt werden konnte. Gleichwohl galten die „Manieren“, also dieVerzierungen, als ein unverzichtbaresMittel, um den Vortrag zu beleben.Bach stellte deshalb eine ausführlicheVerzierungstabelle an den Beginn desClavier-Büchleins für Wilhelm Friedemann Bach (vgl. Tabelle 1 auf S. VIII;zur Ausführung weiterer Ornamentevgl. Tabelle 2). Die in unserer Editionwiedergegebenen Ornamente solleneinen Eindruck der Spielpraxis um1725 im Umkreis Johann SebastianBachs vermitteln und zugleich zu eigenen Überlegungen bezüglich einer angemessenen Auszierung anregen.Allen in den Bemerkungen genanntenBibliotheken sei herzlich für die zurVerfügung gestellten Quellenkopiengedankt.Berlin, Herbst 2014Ullrich ScheidelerPrefaceAfter periods of employment in Arnstadt, Mühlhausen and Weimar, Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)was, in 1717, appointed court Kapell meister to Prince Leopold of AnhaltCöthen. Bach and his wife had fourchildren at this time, of whom the eldest son, Wilhelm Friedemann Bach(1710 – 84), was soon to receive a mu sical education. In this connection, inearly 1720 his father began a ClavierBüchlein, which is dated “begun atCöthen, 22 January 1720”. Its initialpages mainly contain short preludes,chorale arrangements and dance movements, followed by longer preludes thatlater found their way into part I of theWohltemperiertes Klavier. At the backof the book – and still labelled here as“Praeambula” and “Fantasiae” – arethe Inventions and (separated by a suiteby Georg Philipp Telemann and a Partita by Gottfried Heinrich Stölzel) theSinfonias; since the final pages arenow missing, the end of the Fantasiain D major and the whole of the Fantasia in c minor are lost.We do not have exact dates of composition for the Inventions and Sinfonias. We may only assume that the I nventions and Sinfonias were perhaps entered into the Clavier-Büchleinaround 1722/23, since none of the in dividual works in the source is dated.In 1723 Bach wrote out the Inventions and Sinfonias (this time with thetitles generally used today) again, thistime into a separate volume, in faircopy. In so doing he lightly retouchedthe musical text, principally changingthe order of the pieces so that they werenow arranged in ascending order of key.Bach scholar Christoph Wolff has proposed that this autograph, which nowhad an added title page and preface(see reproduction on p. IX), may havebeen made in connection with Bach’sapplication for the position of Cantor atSt. Thomas’s in Leipzig (cf. ChristophWolff, Johann Sebastian Bach, Frankfurt on the Main, 2000, pp. 246 ff.): fol lowing Johann Kuhnau’s death in June1722, Georg Philipp Te lemann hadturned down the offer to succeed him(in November 1722), and ChristophGraupner’s patron did not release himfrom his contract (end of March 1723).Thus Bach, who at the end of 1722 hadbeen invited to join the circle of applicants, found himself a more focusedchoice. Against him, however, was thedouble set of responsibilities involvedin the job of Thomascantor: he not onlywas to lead (and compose) the musicused in services, but he would also haveto teach at the Thomas schule, including giving instruction in singing and afew instruments. In this area, Bach –who had graduated from no university,

VIand at Cöthen was responsible for themusic at court – had little to offer. Notonly the collection of Inventions andSinfonias, but also part 1 of the Wohl temperiertes Klavier – likewise completed by Bach in fair copy at this time –were provided with a title page thatprin cipally emphasised their use in instrumental instruction. Perhaps withthese pieces Bach wanted to prove that,in spite of the lack of a university education, he was nonetheless in a positionto educate his students appropriatelyand successfully.In the “Auffrichtige Anleitung” (Hon est method) that precede the Inven tions and Sinfonias, Bach addressestwo circles of users: (mere) amateurs,and those “desirous of learning”, i. e.instrumental students (the title-page ofthe Wohltemperiertes Klavier likewisetalks of being for the “profit and use ofmusical youth who are eager to learn”).In so doing he emphasises a twofoldlearning-goal: on the one hand, theschooling of a lyrical and equally accomplished playing technique in leftand right hands; and on the other, anintroduction to composition (and perhaps also to improvisation). Possiblyconnected with this last-named intention is the fact that the Inventions andSinfonias make up, as it were, an encyclopedic series of pieces. For, in thiscollection, Bach presents an abundanceof characterful and affective pieces thatencompass a rich spectrum of moodsfrom the galant to the expressive; andmoreover he presents different dancemovement types and compositionaltechniques (two-part imitation andfugue, as well as trio-sonata form). Inso doing he clearly was also at pains toallow the expressive realm of each ofthe various keys to emerge vividly (sofor example both pieces in f m inor arepermeated by expressive “sighing” figures, while those in F major strike alight and playful tone).Bach did, in fact, use the Inventionsand Sinfonias not only to educate hisson Wilhelm Friedemann, but otherpupils too. This emerges, on the onehand, from a report by Ernst LudwigGerber about his father Heinrich Nico-laus, looking back to the latter’s studiesaround 1725 as follows: “In the firstlesson he put his Inventions before him.After he had studied these to Bach’ssatisfaction, there followed a series ofsuites and then the WohltemperierteKlavier” (Historisch-BiographischesLexikon der Tonkünstler, ed. by ErnstLudwig Gerber, Leipzig, 1790, column492). Moreover, written copies of theInventions and Sinfonias have survivedthat were made by a number of Bach’spupils. Most of these early copies mayderive directly from Bach’s fair-copyautograph. This is certainly to be assumed in the case of the copies, bothdated 1725, by Heinrich Nicolaus Gerber and Johann Peter Kellner, as wellas for that by Christian Samuel Mohrheim, which contains only four Inventions and four Sinfonias, and is fromca. 1733 – 36. The c

hann Sebastian Bach (1685– 1750) was, in 1717, appointed court Kapell-meister to Prince Leopold of Anhalt-Cöthen. Bach and his wife had four children at this time, of whom the eld-est son, Wilhelm Friedemann Bach (1710 – 84), was soon to receive a mu-sical education. In this connection, in early 1720 his father began a Clavier-